Doppelt unterm Stern

Am späteren Nachmittag reichte es den Handwerkern in er Orangerie: Sie sind trotz der Uberstunden und Feiertagsarbeit in Verzug und müssen bis heute abend fertig werden; nun spazierten aber Kritiker, Galeristen und Künstler zur Vorbesichtigung durch die halbfertigen Kojen und brachten die Arbeit wiederum ins Stocken. So wurde kurzerhand die Orangerie für den Rest des Tages geschlossen. Eine halbfertige Ausstellung vermittelt sowieso nur unzureichende Informationen. Sie kann mehr verderben als überzeugen.

Daher ist für viele Kritiker immer noch nicht greifbar, was die documenta 8 mit ihrer Gegenüberstellung von Design-Objekten und neuer Skulptur im Sinn hat. Auch die Visionen der Architekten, ihr jeweiliges Ideal-Museum betreffend, waren nur in Ansätzen zu studieren. Die Herren der Baukunst hatten zu einem großen Teil die Pläne zu spät angeliefert und so den gesamten Aufbau ins Stocken gebracht.

Trotzdem waren die Journalisten nicht umsonst angereist. Im Museum Fridericianum, dem Hauptort der documenta, konnte der Zeitplan weitgehend eingehalten werden, Die Ausstellung war dort so gut wie fertig. Aber wie immer gab es hier bis zur letzten Minute Platzkämpfe. Der Maler Anselm Kiefer, der neben seinen beiden Großformaten auch seine Malbücher anlieferte, soll mit Auszug gedroht haben, falls er seinen großen Raum nicht ungeschmälert bekommen hätte. Und eine Galeristin kämpfte für einen, wie sie meinte, günstigeren Platz für eine Installation von einem ihrer Künstler. Solche Spiele gehören offenbar zum Geschäft großer Ausstellungen. Weh dem nur, der die geltende Hierarchie nicht erkennt!

Die documenta 8 ist wieder belebt. Während die Malerei, wie seit langem abzusehen, in den Hintergrund tritt, drängen sich an verschiedenen Eckpunkten mächtige Video-Installationen nach vorn: Nam June Paik, vor zehn Jahren mit seinem Video- Dschungel dabei, hat nun eine riesige Monitor-Wand Joseph Beuys gewidmet. Bei Marie-Jo Lafontaine hingegen ist die Video-Wand zur eigenständigen Bild-Klang- Skulptur geworden.

Ist es Zufall oder ein listiger Plan, daß die documenta 8 gleich doppelt unter den Stern von Untertürkheim geriet? Dem Franzosen Ange Leccia gefiel es, einen nagelneuen Mercedes auf dem runden (und wie im Autosalon rotierenden) Präsentierteller darzubieten – aus Freude an der eleganten Form und der blauen Farbe an sich.

Das Gegenstück dazu steht gleich in der Eingangshalle des Museums Fridericianum: Der leuchtende Mercedesstern dreht sich über dem zu gewaltigen Raumzeichen gestalteten Signet der Deutschen Bank. Im Hintergrund leuchtet ein Farbfoto auf – ein Bild vom Trauerzug für einen Farbigen, der bei den Unruhen in Südafrika umgekommen ist. Flankiert ist dieses „Denkmal“ von Tafeln, auf denen die Verquickung von Daimler-Benz und Deutscher Bank und deren beider Geschäft mit Südafrika dokumentiert ist. Diese äußerst still und ästhetisch wirkende Anklage der beiden Unternehmen hat der Künstler Hans Haacke formuliert, der immer wieder mit seinen politisch-kritischen Installationen für Aufsehen sorgt.

Die documenta drängt auch nach außen. Die Guillotinen von Ian Hamilton Finlay auf der Achse zwischen Orangerie und Tempel auf der Schwaneninsel sind längst zur Publikumsattraktion geworden. Aber auch die Podeste und Brücken des Kanadiers George Trakas sind, soweit benutzbar, schon in Beschlag genommen worden. Seit gestern erobern außerdem Plakate die Stadt: ,,Führe dich selbst“, fordert ein Großplakat auf, dessen Hintergrund die amerikanische Flagge bildet. Les Levine hat die irritierenden Plakate für die Innenstadt zweisprachig gestaltet. Morgen kommt mit der Eröffnung ein in die Stadt hineinführendes Performance-Festival hinzu.

Kommentar

Veränderung

Immer wenn von Kassel und der documenta die Rede ist, dann wird das Märchen vom Dornröschen zitiert, das am Ende wachgeküßt wird. Nun dauert der Kunstschlaf Kassels allerdings nur fünf Jahre. Dann ist die Stadt jedoch ein Zentrum, wie es sonst nur eine Metropole zu sein vermag.

Jetzt ist es wieder soweit. Und alles spricht dafür, daß die 100 Tage zu einem großen Schauspiel werden, an dem sich auch die Einwohner, die sich eigentlich abwenden wollen, erfreuen können. Die documenta spült nicht nur viel buntes Volk nach Kassel, sondern verändert die Stadt und bietet Unterhaltung in Mengen. Soviel wie in diesem Jahr gab es noch bei keiner documenta nebenbei.

Kunst unterhält aber nicht nur, sondern bereichert auch. Wie sehr sich die Stadt durch die Baumpflanzaktion „7000 Eichen“ von Beuys verändert hat, werden vielleicht die anreisenden Besucher eher ermessen können als die Bürger, die von dem Grün profitieren.

Die Kunst will nicht nur bewundert werden. Schönheit kann auch der Designer liefern. Der Künstler kann mehr leisten, er kann Verdrängtes hervorholen, Zusammenhänge sichtbar machen, aber auch Träume beschwören. Die Kunst zielt wieder stärker ins Leben, in die Gesellschaft hinein. Wenn diese Botschaft der documenta 8 stimmt, dann gilt das Wort vom Rückzug ins Museum nicht mehr.

HNA 11. 6. 1987

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