Nimmt man den statischen Ausstellungsteil allein und läßt die Bereiche Design, Architektur und Performance außer acht, dann ergibt sich in diesem Jahr mit knapp 120 Namen die seit langer Zeit kürzeste Künstlerliste einer documenta. Manfred Schneckenburger ist damit bei seiner zweiten documenta etwas gelungen, wonach vor ihm Ausstellungsmacher oft vergebens strebten – der konzentrierte Überblick. Das kommt vor allem den ausgewählten Künstlern im Museum Fridericianum zugute. Es werden geschlossene Räume möglich, es entstehen Ruhe- und Dialogsituationen.
Schneckenburger ist nach 1977 zum zweiten Mal der künstlerische Leiter einer documenta. Zum zweiten Mal wurde er verspätet berufen, als andere im Streit aufgegeben hatten. Das machte seine Startposition nicht leichter. Wiederum trat er unter Zeitdruck an und wiederum mußte er gegen das Image ankämpfen, ein Mann der zweiten Wahl zu sein.
Andererseits wurde dies, sieht man von der vorausgegangenen Absage von de Wilde und Szeemann ab, in ihrer Vorbereitungsphase die ruhigste documenta. Das von Schneckenburger berufene Team, wenn vielleicht auch mit unterschiedlichem Engagement, blieb zusammen und erarbeitete ein Konzept, das dem von Rudi Fuchs und seiner documenta 7 sehr viel näher steht als dem, das
Schneckenburger vor zehn Jahren gemeinsam mit Lothar Romain entwickelt hatte.
Obwohl Schneckenburger in den historischen und sozialen Dimensionen wiederum einen thematischen Überbau fand, engte er dadurch seine Ausstellungsgliederung nicht ein. Durch Gegenüberstellungen läßt er Zusammenhänge und Gegensätze spürbar werden, noch stärker setzt er aber auf die Eigenkraft der Werke.
Die documenta 8 bezieht entgegen ersten Entwürfen eine historische Rückbesinnung nicht mit ein. Für die Kontinuität sorgen die Helden der documenta (um ein Wort von Rudi Fuchs aufzunehmen), die Künstler, die nun schon zum wiederholten Male das Bild der Ausstellung prägen und Maßstäbe setzen sollen. Allen anderen voran sind Joseph Beuys, Sigmar Polke, Gerhard Richter und Richard Serra zu nennen. Aber auch Richard Artschwager, Christian Boltanski, Jochen Gerz, Hans Haacke, Anselm Kiefer, Gerhard Merz, Nam June Paik, Ulrike Rosenbach, Ulrich Rückriem, Klaus Staeck und Franz Erhard Walther gehören dazu.
Es war voraussehbar, daß die documenta 8 den Triumphzug der Malerei, den ihre Vorgängerin zelebriert hatte, nicht fortsetzen würde. Zu sehr hatte sich einerseits das Interesse den neuen Formen der farbigen Skulptur zugewandt, die sich mit Architektur und Design auseinandersetzt, und zu deutlich war von Anfang an das Interesse Schneckenburgers an plastischen und räumlichen Formulierungen gewesen. Immer, wenn der Leiter der documenta 8 im Gespräch oder Vortrag sein Konzept umriß, wandte er sich weitläufig den plastischen und räumlichen Inszenierungen zu. Allerdings schloß er nie, ohne zu sagen, natürlich werde die Malerei gut und breit vertreten sein.
Malerei als Thema der Malerei hatte die documenta 6 ihre zentrale Gemälde-Abteilung benannt. In ihr waren die Hauptvertreter jener Malkunst zu sehen, die sich mit dem Malen selbst, der Farbe, dem Farbauftrag, der Virtuosität und der Farbbeschränkung beschäftigten. Es war eine Untersuchung (und Huldigung) jener Malerei, die sich ganz auf sich selbst konzentrierte und keinen ablenkenden Gegenstand zuließ.
Auch die Kunst der documenta 8 denkt in weiten Bereichen über die Kunst nach, allerdings auch über deren Themen. Und so kommt jene Kunst zum Zuge, die unter wechselnden, aber jeweils ganz speziellen Gesichtspunkten vorgefundene Bildwelten spiegelt. Kräfte, die von der Pop-art, vom Foto-Realismus und auch von der neuen Malerei aktiviert wurden, werden hier gebündelt und genutzt. Das beste Beispiel dafür bieten die beiden Exilrussen Vitaly Komar und Alexander Melamid, die eine 18 Meter lange Wand im Museum Fridericianum aufgestellt haben, die beidseitig mit Bildern behängt und beklebt ist. Alle Stile und Formen des 20. Jahrhunderts werden hier zitiert – vom Realismus bis zum Konstruktivismus, von der Farbuntersuchung bis zur expressiven Komposition. Der Kampf der Stile spiegelt den Kampf der Ideologien und Welten; politische Zitate (Stalin und Hitler) tauchen ebenso auf wie kirchliche oder intime.
Als anderes Beispiel sei die Malerei von Eric Fischl angeführt, der mehrere willkürlich einander zugeordnete Leinwände zu einer magisch-realistischen Komposition verknüpft. Während die intim-kalte Bildwelt eines Edward Hopper beschworen wird, führt der Künstler die Unmöglichkeit einer geschlossenen (illusionistischen) Malerei vor.
Wie schon die documenta 6 legte Schneckenburger auch diese Kunstschau als ein offenes, die Bürger einladendes und herausforderndes Ereignis an: An rund 20 Plätzen in der Karlsaue und der Innenstadt stoßen auch die Menschen, die nicht den Weg in die documenta finden, auf Außen- skulpturen und Installationen. Im Gegensatz zur d 6 wählten Schneckenburger und sein Team mehrere Beiträge aus, die unmittelbar in das Stadtbild eingreifen und möglicherweise der Diskussion über die Stadtplanung neue Impulse geben.
In dieser Beziehung tritt das Kasseler Unternehmen in direkte Konkurrenz zu Skulptur-Projekte Münster eine ebenfalls stadt- und platzbezogene Skulpturenschau, die parallel zur documenta 8 diesen Sommer in Münster zu sehen ist. Der Unterschied zwischen beiden Ereignissen: In Münster möchten die Initiatoren erreichen, daß möglichst viele der für die Orte entwickelten Skulpturen auf Dauer dort bleiben, in Kassel sind die Projekte von Anfang an nur auf Zeit angelegt.
Noch ein anderes Element der documenta 8 wird direkt in die Stadt hineinwirken – das Performance-Programm, das in mehreren BIöcken durchgezogen wird. Die Performance, im Zwischenbereich von Theater, bildender Kunst und Aktion, fängt vieles von dem auf, was auf anderen Ebenen nicht zu formulieren ist. Hier erhält sie nun den ihr gebührenden Platz.
HNA 11. 6. 1987