Wozu denn noch Kunst?

Auf meinem Schreibtisch liegt das Bruchstück eines Backsteins, im Februar 1986 aus dem Boden neben der Orangerie geborgen – ein Reststück der in einer Nacht- und Nebel-Aktion abgerissenen Skulptur von Per Kirkeby. Der Stein erinnert an das vergebliche Tauziehen um den Erhalt der 1982 errichteten documenta-Skuiptur, die der dänische Künstler der Stadt zum Geschenk gemacht hatte.

Aber er ist mehr als nostalgische Erinnerung, er ist ein Denkmal fehlgeleiteter Kulturpolitik. Geschichte, so heißt es, wiederholt sich nicht. Aber manchmal wohl eben doch. Zwar ist im Moment der Abriß der zehn Jahre später erbauten zweiten Kasseler Kirkeby-Skulptur nicht zu erwarten, doch bis zum öffentlichen Aufschrei war die Gefahr sehr groß.

Allem Anschein nach liegt der größere Teil der Schuld, daß Kirkeby sein ihm zustehendes Honorar noch nicht erhalten hat, beim Land. Dort war das Honorar offenbar erst etatisiert und dann aus Finanznot gestrichen worden. Doch nicht nur die zuständigen Ministerien in Wiesbaden sind zu fragen, wie es zu dieser Fehlleistung kommen konnte, sondern auch die documenta-Geschäftsführung und das hiesige Kulturdezernat. Aufgrund der skandalösen Vorgeschichte hätten beim Stichwort Kirkeby-Skulptur sämtliche Alarmglocken klingeln müssen. Schließlich hatte
Harald Kimpel in seiner Ausstellung „Aversion — Akzeptanz“ zur documenta 9 den Skandal dokumentiert und im Katalog polemisch gefragt, ob der zweite Kirkeby-Bau ein ähnliches Schicksal wie der erste erleiden werde.

Schlimm an der Geschichte sind nicht nur der fahrlässige Umgang mit dem Werk und die Geringschätzung der künstlerischen Leistung, sondern die Mechanismen, die sichtbar werden:
Zur Ermöglichung der Skulptur wollten sich bei deren öffentlicher Übergabe (mit Fototermin) alle Verantwortlichen bekennen, aber für die Erfüllung der Honorar-Zusage fühlte sich nach einiger Zeit niemand mehr zuständig. Erst die Drohung mit der Abriß-Birne brachte Bewegung in die Geschichte. Dabei scheint aber es so, daß der Bericht darüber als verhängnisvoller angesehen wird als das Versäumnis selbst.

Es sind dieselben Spielchen, die sonst in der Politik getrieben werden. Sie stellen Kunst und Kultur in Frage: Wozu denn noch Kunst, wenn deren Durchsetzung nur mit den gleichen erpresserischen Mitteln möglich ist, gegen die sonst Kulturbeflissene zu Felde ziehen? Wie läßt sich noch angesichts der radikalen Kürzungspolitik für den Erhalt von Kunst und Kultur argumentieren, sie könnten eine kälter werdende Welt verhindern helfen, wenn eben sie auf der Politik der Kälte gründet?

HNA 21. 5. 1994

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