Lob und Schelte

Auf die Fragen, welche Ausstellung des Jahres 1987 für ihn die wichtigste gewesen sei und welche ihn am meisten enttäuscht habe, nennt der Wiener Kritiker Kristian Sotriffer in beiden Fällen die Kasseler documenta 8. Als wichtig empfindet er die Kasseler Kunstschau, „weil man an sie in jedem Fall gewisse Erwartungen knüpft und weil ihresgleichen in diesem Jahr kaum eine .Konkurrenz zu befürchten hatte“. Andererseits enttäuschte ihn die documenta 8, weil das Unternehmen an seinem eigenen Anspruch, nicht eingelösten Versprechungen und der offenbar gegebenen Unmöglichkeit, Tatbestände zu berücksichtigen, zu scheitern scheint.

Zu finden ist dieses unentschiedene, und gar nicht untypische Urteil im Januar-Heft des Kunstmagazins „art‘. Zehn Kritikern hat das Magazin die Fragen nach der wichtigsten und der enttäuschendsten Ausstellung vorgelegt; außerdem wurde nach dem Künstler gefragt, dessen Werk 1987 am stärksten beeindruckt habe.

Die documenta 8, vom Kritiker- und Publikumszulauf her das größte Ausstellungs-Ereignis, wird durch das keineswegs überraschende Umfrage-Ergebnis auf den schwankenden Boden des Kritiker-Streits geholt. Sie ist, wie „art‘ schreibt, „kein ganz großes Thema mehr‘, aber doch noch ein großes. Lediglich in den Antworten der New Yorker Kritikerin Grace Glueck und ihres Züricher Kollegen Richard Häsli taucht die documenta überhaupt nicht auf. Alle anderen acht ziehen sie heran, reiben sich an ihr, schelten sie und loben sie auch.

Alfred Nemeczek, stellvertretender Chefredakteur von „art‘ und immer noch ein Kassel verbundener Kritiker, urteilt „vor allem aus enttäuschter Liebe zur über 30 Jahre alten Institution“: Mußte die in ihrem Kunstprogramm konzeptionsschwache Schau auch noch Design und Architekturspielereien als gleichberechtigt akzeptieren und an ihrem heiklen Ort das Sponsoren-Unwesen auswuchern lassen?“

Noch entschiedene formuliert Marina Vaizey (London) ihren Arger: „Dieser Mischmasch, diese
Mixtur der Stile und Perspektiven, dazu die krassen Qualitätsunterschiede von Künstler zu Künstler sorgten für Unbehagen. Vergnügen und Information wurden in ganz kleinen Mengen geboten.“

War die documenta 8 also ein völliger Reinfall? Keineswegs. Da braucht man nicht nur jene Ausstellungen heranzuziehen, die hier als zum Teil als zweifelhafte Alternativ-Ereignisse angeboten werden, da kann man auch auf die beiden Frankfurter Kritiker Eduard Beaucamp und Peter Iden verweisen, die sich gern wie feindliche Brüder bekriegen, aber hier in seltener Einmütigkeit die documenta 8 zu der Ausstellung des Jahres erklären. Das Lob kommt nicht ohne Wenn und Aber, aber es kommt. Beaucamp: „Sie gab, unter kecker Vernachlässigung der in den letzten Jahren arg geputschten Malerei, ein realistisches Bild von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der zeitgenössischen Kunst.“ Und Iden: „… wegen der Bereitschaft Manfred Schneckenburgers, nach einer Gesellschaftsbindung der Kunst zu fragen, mögen auch nicht alle guten Hoffnungen wahr geworden sein.“

Die krassen Meinungsunterschiede sind nicht zuletzt die Folge einer gewissen Ratlosigkeit, die im Jahr 1987 die gesamte Kunstszene beherrschte: Da sich keine neuen Tendenzen durchsetzten und kein klarer Bezugsrahmen vorhanden war, mußte sich die documenta 8 auf ungesichertem Felde bewegen. Wo keine klaren Linien sind, konnte sie keine aufzeigen. Und so kommen sich im Endeffekt die Kritiker sehr nahe, auch wenn sie Lob und Schelte unterschiedlich austeilen.

Trotz allem bewährte sich die _documenta 8 als ein Ort der Entdeckungen: Fünf von neun Kritikern, die sich auf „ihren“ Künstler des Jahres 1987 festlegen wollen, nennen einen documenta-Künstler mit einem documenta-Werk: Marie-Jo Lafontaines Video-Installation (Eduard Beaucamp), Eberhard Boßlets „Unterstützende Maßnahmen“ (Jürgen Hohmeyer), Mark Tanseys Gemälde (Peter Iden), Tadashi Kawamatas Ummantelung der Garnisonkirche (Petra Kipphoff) und Magdalena Jetelovas riesiges Holzobjekt (Kristian Sotrilfer). Keine schlechte Bilanz.
HNA 4. 1. 1988

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