Leben ist in die Neue Galerie in Kassel eingekehrt. Gleich links neben dem Eingang steht eine verrückte Tischtennisplatte: Während aus der einen Plattenhälfte ein großes Loch herausgesägt worden ist, wurde die andere Hälfte spitzwinklig geklappt; die bereitliegenden Schläger wurden ähnlich zugerichtet – durchlöchert, zusammengeklebt oder mit festsitzenden Bällen ausgestattet.
Trotzdem kann, wer will, an dieser von George Maciunas gestalteten Platte sein Spiel machen.
Geht man weiter, durch den Beuys-Saal hindurch, kommt man in einen Raum, der zum Musikzimmer geworden ist. Sechs Klaviere stehen da, eines davon ramponiert, ein anderes mit einer zugenagelten Tastatur (eine Augenweide für einen Musikkritiker), aus einem grünen Klavier kommen Vogelstimmen… An zwei Instrumenten kann der Besucher seinem Spieltrieb folgen und mit Hilfe von Schaltern kleine Propeller in Gang setzen, die die Saiten zum Klingen bringen.
Blickfang dieses Musikzimmers ist aber die Schaufensterfront eines Musikladens. Im Fenster hängen mehrere Instrumente. Die Tür des Raumes ist zwar verschlossen, doch ist der Neugierige aufgefordert, kräftig zu klingeln. Dann nämlich werden in dem Laden ebenfalls kleine Propeller angetrieben, die die ausgestellten Instrumente erklingen lassen. Der Laden wie auch die entsprechenden Klaviere stammen von Joe Jones, während das grüne Vogelchorklavier von Nam June Paik bearbeitet worden ist.
Aber es werden nicht nur ungewohnte Klänge erzeugt, sondern auch Schweigen. So trifft man in der Eingangshalle auf ein Aquarium, in dem die zerbrochenen Teile einer Violine schwimmen – eine kleine Wassermusik von Walter Marchetti. Oder: Ein Kreis aus Notenständern, bei denen Robert Filliou an die Stelle der Blatthalter Spiegel setzte.
Die beschriebenen Objekte sind Teile der Ausstellung 1962 Fluxus 1982. Die Ausstellung erinnert an eine künstlerische Bewegung, die in den frühen 60er Jahren aufblühte und die bis heute fortlebt, wenn auch nicht mehr unbedingt unter dem alten Namen Fluxus. Dieser Name, der als Titel einer nie erschienenen Zeitschrift gedacht war, meint: alles ist in Bewegung, ist in Fluß, es gibt keine Grenzen zwischen den Künsten.
Die Fluxus-Künstler der 60er Jahre waren Enkel der Dada- Künstler, die eine formensprengende Antikunst propagierten, die sich dem Unsinn verschrieb, um neue Sinnzusammenhänge freizulegen. Vierzig Jahre nach Dada war klar, daß der Ausbruchsversuch zwar die Ausdruckssprache der Kunst erweitert, den Kunst-Charakter aber nicht verändert hatte. Umso radikaler gingen die Fluxus-Künstler vor, die Malerei, Objektkunst, Musik, Theater und Happening nutzten, um zu spielen und zu provozieren: Die traditionelle Musik wurde zerstört – Schallplatten überklebt und zerschnitten und dann dennoch abgespielt – und gleichzeitig wurde fern des Notendrills den anderen Seiten der Musik gehuldigt. Anknüpfend an Marcel Duchamp gingen Künstler wie Ben Vautier und George Brecht den Widersprüchen zwischen Bild- und Sprachebene nach. Aktion und Spontaneität wurden als die wahren Kunst-Quellen gefeiert.
Die Ausstellung, die für das Museum Wiesbaden konzipiert worden war und in Kassel insbesondere auf begleitende Aktionen verzichten muß, präsentiert sich in der Neuen Galerie als quicklebendig, herausfordernd und anregend. Die Fluxus-Bewegung selbst ist zwar überholt, doch die sie tragenden Künstler haben ihre Wesenszüge begeistert fortgeschrieben. Fluxus bedeutete einen kreativen Schub, von dem die Aktions- und Videokunst ebenso profitierten wie die Objekt- und Umweltkunst. Eine Fundgrube für Augen und Ohren.
HNA 18. 12. 1982