Verlust und Zugewinn

Wurde man aus der Neuen Galerie in Kassel, die Teil der dort ansässigen Staatlichen Kunstsammlungen ist, alle Leihgaben abziehen, dann wäre in diesem Museum die international wichtige Kunst des 20. Jahrhunderts nur äußerst schwach vertreten, Galerieleiter Bernhard Schnackenburg muß damit leben, daß er weit mehr bewegliches Gut verwaltet, als ihm lieb ist und als den meisten Museurnsbesuchern bewußt ist.

Der zwangsläufige Wechsel verändert oftmals das Erscheinungsbild des Museums an seinen Rändern. So mußte man jetzt zusehen, wie ein Leihgeber Noldes „Bildnis Gustav Schief1er“ (1915) aus der Neuen Galerie in Kassel abzog, weil sich ihm eine günstige Verkaufschance bot. Für 490 000 DM ging das Gemälde an das Brücke-Museum in Berlin. Weder die Staatlichen Kunstsammlungen noch die Stadt Kassel hätten im Traum daran denken können, durch entsprechende Offerten das Bild für die Neue Galerie zu retten.

Das kleine Expressionisten- Kabinett konnte dank einer glücklichen Fügung die entstandene Lücke schnell wieder schließen. Seit einigen Tagen gehören nämlich zum Bestand der Neuen Galerie zwei Landschaftsbilder von Max Pechstein (1881 – 1955). Wiederum handelt es sich um Leihgaben:
Der Eigentümer der Bilder war in eine der regelmäßigen Beratungsstunden der Staatlichen Kunstsammlungen gekommen, um sich fachlichen Rat zu holen; dieser Kontakt ebnete den Weg zu einem vorerst auf fünf Jahre befristeten Leihvertrag.

Die beiden Bilder „Blumengarten“ (1907) und „Haus auf der kurischen Nehrung“ (1909) stammen noch aus der Vor „Brücke“-Zeit, aus jener Phase, in der der expressionistische Stil noch nicht ausgeprägt war. An den Bildern ist jedoch Pechsteins Entwicklungsgang klar abzulesen: Während im „Blumengarten“ (Tempera auf Papier) die zarten Farben noch eindeutig den Formen zugeordnet sind, ist das „Haus auf der kurischen Nehrung“ voll explosiver Buntheit; dicke, hervortretende Farbstriche lösen die Stofflichkeit auf und beziehen alles in einen bewegten farbigen Fluß ein. Dieses Bild ist eines der schönsten Zeugnisse von Pechsteins erstem Aufenthalt an der Ostsee, wohin der Künstler bis 1949 regelmäßig zurückkehrte.

HNA 28. 10. 1981

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