Darf kein Experikent sein

Jede documenta hat ihre eigene Geschichte. Häufig bestimmten organisatorische oder räumliche Unwägbarkeiten den Vorlauf, oder es gab im Vorfeld der Kasseler Ausstellung offene Konflikte im Leitungsteam. Dies alles trifft für die Planungsphase der documenta 9 (13. Juni bis 20. September 1992) bislang nicht zu: Wenn der Zeitplan eingehalten wird, steht der kommenden documenta neben dem Museum Fridericianum die neue documenta-Halle als zweiter zentraler Ausstellungsort zur Verfügung. Außerdem kann der mit vielen Vorschußlorbeeren versehene Genter Museumsdirektor Jan Hoet (54) bereits seit über einem Jahr an dem Konzept für die Ausstellung arbeiten, die nach wie vor als die wichtigste Kunstschau der Welt gilt. Und selten zuvor ist ein documenta-Leiter schon im voraus in seiner neuen Funktion so oft für Ehrenämter verpflichtet worden.

Eine gute Ausgangslage für die Kasseler Ausstellung, könnte man meinen. Trotzdem gibt es skeptische Zwischenrufer. Vor allem diejenigen, die zu Vorkämpfern der documenta-Idee gehören, scheinen irritiert zu sein. Vielleicht, weil Hoet ganz anders vorgeht und noch stärker als seine Vorgänger nach dem Motto handelt: Die documenta findet in Kassel statt, aber sie gehört der Welt. So sieht es Hoet auch heute, nach der herben Kritik, die er sich einhandelte, nicht als einen Ausrutscher an, im Februar seinen Zwölf-Stunden-Gesprächsmarathon zur documenta nicht in Kassel, sondern in Gent veranstaltet zu haben, im Gegenteil, jetzt macht er eine Strategie daraus und plant für März/April 1991 ein weiteres, einen „richtigen“ Marathon außerhalb Kassels: Es soll (mit Ubernachtungsmöglichkeit) über 24 Stunden gehen und dort stattfinden, wo das Bauhaus seinen Ursprung hatte – in Weimar.

Dahinter steckt natürlich ein Hang zur Show. Aber Hoet will mehr. Obwohl er einen ganz klaren und ausgesprägten Sinn für das hat, was Kunst ist und wie Kunst präsentiert werden muß, versucht er immer wieder, sich seiner Position zu vergewissern, sucht er den Dialog. Die documenta 9 soll eine Herausforderung werden, sagt er im Gespräch, aber sie darf kein Experiment sein: Die documenta ist zu wichtig, um auf ihr etwas auszuprobieren. Und so reist er so intensiv wie keiner seiner Vorgänger rund um die Welt, um Künstler und Kunstwerke in Ateliers und Galerien kennenzulernen. So diskutiert er mit seinen Mitarbeitern und vor allem mit den Künstlern.

Zu den Irritationen, die Hoet auslöste, zählt auch seine Entscheidung, den Auftrag für den documenta-Katalog nicht nach Kassel, sondern an die Edition Cantz in Stuttgart zu vergeben (Hoet: „Die gehen mit Künstlern so um wie wir“). Der documenta-Katalog soll als ein zweibändiges Werk angelegt werden. Der erste Band soll weitgehend ohne Text auskommen und auf je einer Doppelseite so aktuell wie möglich die documenta-Beiträge der Künstler in Fotos dokumentieren. Der zweite Band, der bei zu großem Umfang auch in zwei Bücher aufgeteilt werden könnte, soll auf je vier bis sechs Seiten Biographien, Bibliographien, Statements, Interviews und Impressionen zu den einzelnen Künstlern vereinigen. Dieser Katalog soll durch zwei Bände (,‚Auf dem Weg zur documenta 9“ und „Reflexionen“) ergänzt werden. Außerdem soll ein Kurzführer erscheinen.

Die documenta 9 soll eine Ausstellung der Künstler werden. Jan Hoet und seine Mitarbeiter wollen die 125 Namen auswählen, doch dann sollen die Künstler selbst entscheiden können, was sie in Kassel realisieren wollen. Um auch in dieser Richtung ganz sicher zu werden, will Hoet im Frühjahr kommenden Jahres (wenn er seine Erkundungsphase beendet hat) neun Künstler, die für ihn die „Plattform“ der gesamten Ausstellung bilden, nach Kassel einladen und mit ihnen die Ausstellungsorte besuchen und diskutieren. Hoet. „ Jede Aussprache ist eine Herausforderung von anderen Gedanken, und ich muß neu überlegen.“

Überdacht hat er beispielsweise den Vorsatz, die zur documenta 7 errichtete Backsteinskulptur von Per Kirkeby, die später entgegen einer Zusage abgerissen wurde, rekonstruieren zu lassen. Kirkeby plant nun eine Arbeit, die sich auf die neue documenta-Halle bezieht.

Völlig neu, aber ganz im Sinne des Zeitgeistes ist die von Hoet und documenta-Geschäftstührer Alexander Farenholtz gemeinsam entwickelte Idee, für die documenta 9 fünf Sponsoren zu gewinnen, die (über den offiziellen 10-Millionen-DM-Etat hinaus) mit je 600 000 DM dazu beitragen sollen, daß möglichst alle Künstler in Kassel ihre Beiträge verwirklichen bzw. installieren können. Mit Hilfe der Frankfurter Soukup/Krauss sollen die Verträge mit drei Sponsoren bereits unterschriftsreif sein.

Im Gegensatz zur vorigen documenta werden die Sponsoren im Ausstellungsgelände nicht in Erscheinung treten. Sie sollen aber in den documenta-Publikationen und mit dem Signet der Ausstellung werben dürfen. Außerdem wird es für die Sponsoren ein Sonderprogramm zur Begegnung mit der Kunst in der documenta geben.

HNA 20. 8. 1990

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