Vor der Schau das Chaos

In 18 Monaten (13. Juni bis 20. September 1992) wird zum 9. Mal in Kassel die documenta zu sehn sein – die weltweit wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Die documenta wurde 1955 von Arnold Bode begründet; sie findet jetzt alle fünf Jahre statt. Mit der künstlerischen Leitung der nächsten documenta wurde im Januar 1989 der Genter Museumsdirektor Jan Hoet beauftragt. Über seine eigenwillige Arbeitsweise berichtet unser Redaktionsmitglied Dirk Schwarze.

Man ist zu Besuch, und der Hausherr ist nicht zu bremsen: Stunde um Stunde führt er Dias aus seinem Archiv vor. Sie kennen diesen Alptraum? Dann können Sie vielleicht erahnen, wie es bei der Vorbereitung zu der internationalen Kunstschau documenta 9 zugeht, die 1992 in Kassel stattfinden soll.

Wer an die ausgewählte Kunst heran will, der muß durch einen schier unermeßlichen Berg von Dias hindurch. Ähnlich radikal wie der Hausherr mit seinen Gästen geht der künstlerische Leiter der documenta 9, der Belgier Jan Hoet, mit den Freunden der Kunst um: Wer die documenta und deren Auswahl wirklich abwägen will, der muß auch vorher all das sehen, was nicht gezeigt wird.

Für Jan Hoet ein einsehbarer Prozeß: Man sei daran gewöhnt, eine Ausstellung isoliert anzusehen und sie allein für sich zu bewerten. Das aber reicht dem Genter Museumsmann nicht. Er will den Kunstfreund, der 1992 durch die Kasseler documenta wandert vorher an dem Chaos teilhaben lassen, aus dem die Kunstschau destilliert wird. Nur wer die Fülle kennt, wird die Auswahl zu schätzen wissen, lautet Hoets Devise.

Also führt er unermüdlich Hunderte und Tausende von Dias vor – beim Gesprächsmarathon im vorigen Februar in Gent und bei zwei Vorträgen in Kassel; auch nächstes Jahr beim 24-Stunden-Marathon in Weimar werden wieder unzählige Dias zu betrachten sein.

Selbst dann, wenn es intim wird, und Jan Hoet seine drei Mitarbeiter um sich versammelt, den Griechen Denys Zacharopoulos, den Italiener Pier Luigi Tazzi und den Belgier Bart des Baere, dann läßt Hoet den Projektor herbeischaffen und jagt eigenhändig Dias durch: Bilder aus Künstlerateliers, Bilder aus Galerien; hier Australien, dort Dänemark, da Italien und Deutschland und immer wieder
USA.

Kann man auf Dias eine docunenta aufbauen? Bewahre, das will Hoet nicht. Gerade er, der für das sinnliche Erlebnis von Kunst plädiert, will nicht über fotografierte Kunst entscheiden. Auch wenn er sie dauernd vorführt, bedeuten die Dias nicht viel für ihn. Sie sind für ihn bloß Erinnerungsstützen, denn das, was im Bilde festgehalten ist, hat er selbst gesehen – in New York und Lyon, in Lissabon und in Havanna.

Wohl nie zuvor in der 35jährigen documenta-Geschichte hat ein künstlerischer Leiter dieser Kunstschau soviel Zeit gehabt und sich genommen, um rund um den Globus auch in den entlegensten Ländern die Situation der aktuellen Kunst zu studieren. Hoet und seine Mitarbeiter haben sich informiert.

Nun sitzen sie zwischen ihren Ausflügen in die Welt in Kassel beisammen – in Hoets Büro im Zwehrenturm, der unmittelbar mit dem Stammhaus der documenta, dem Museum Fridericianum, verbunden ist. Wieder werden Listen geführt und Dias gezeigt. Gestern war Italien dran: Die Werke italienischer Künstler wurden so intensiv diskutiert, als hätte man eine Ausstellung „Italienische Kunst heute“ zu arrangieren. Zehn Namen wurden am Ende herausgefiltert. Stehen damit zehn italienische documenta-Teilnehmer fest? Nein.

Die Liste der zehn Italiener ist zuerst nicht mehr als ein Orientierungsmittel. Wenn später Hoet und seine drei Mitarbeiter die kanadischen oder portugiesischen Künstler durchgehen und sie dabei ein oder zwei Künstler finden, die ganz ähnlich wie einige Italiener arbeiten, dann wird abgewogen: Wer ist wichtiger? Wer hat mehr Ausstrahlung, mehr Qualität?

Rund 70 Künstler stehen schon für die documenta 9 fest, mehr als 125 sollen es nicht werden. Lohnt sich dann dieser Arbeitsaufwand, da doch Hoet mit Ausstellungen wie „Chambres d‘amis“ oder „Open mind“ in Gent längst bewiesen hat, daß er einen sicheren Blick hat? Hat es einen Sinn, immer wieder in das Chaos der Bilderfülle einzutauchen? Gewiß.

Er braucht die Vergewisserung, er sucht die Bestätigung; Hoet braucht Zuhörer und das Gespräch, ein Echo und auch Widerspruch. Das gilt für den publikumswirksamen Gesprächs-Marathon ebenso wie für die Mitarbeitersitzung. So kann er laut denkend seine Ideen entwickeln. Entschieden vertritt er Positionen und entschieden wechselt er sie auch. Er ist der Meister, und die anderen arbeiten ihm zu. Ohne die anderen zu bevormunden, führt Hoet (meist in Englisch) das Gespräch. Zwischendurch entspinnt sich auch mal ein theoretischer Dialog über die Generation der jungen Künstler. Vor allem Tazzi und Hoet sind sich da einig: Die meisten der jungen Künstler kennen genau die Strategien, sie wissen, ob sie malen sollen oder installieren, sie kennen den Rahmen und die Form. Umso schwerer also ist es, an ihr wahres Temperament heranzukommen.

Während seine Mitarbeiter noch die nationalen Künstlerlisten abstimmen, denkt Hoet schon wieder über konkrete Gestaltungsfragen nach: Welche der jetzt bereits ausgewählten Künstler sollen für die documenta ein Poster entwickeln? Da Hoet Sinn für Symbolik hat, steht vor den Namen die Zahl fest: Zur documenta 9 sollen neun Künstler den Auftrag für einen Plakatentwurf erhalten.

Nun wird um Namen gerungen. Plötzlich aber fragt Denys Zacharopoulos, ob es denn auch
ein generelles Plakat geben werde. Allerdings, antwortet Hoet, und zieht zur Überraschung seiner Mitarbeiter eine Ideen-Skizze aus einem seiner beiden documenta-Notizbücher hervor. Es ist der Entwurf für ein Schrift-Plakat. Zeile für Zeile steht da: documenta 1 unvergeßlich, documenta 2 unvergeßlich, … documenta 8 unvergeßlich, documenta 9 unglaublich.

Von „unvergeßlich‘ zu „unglaublich‘: In diesem Plakat dokumentiert sich Hoets Bezug zur Geschichte ebenso wie sein Selbstbewußtsein. Ja, er weiß, was er will. Durch alle Diskussionen kehrt er immer wieder zu seinen Grundbekenntnissen zurück und zu seinen „HeIden“, den Schlüsselfiguren also – Bruce Nauman, Mario Merz, Gerhard Richter, Per Kirkeby, Jan Fabre oder Franz West. Ganz gleich, wohin er kam, die Schatten dieser und anderer Künstler waren schon da.

HNA 30. 12. 1990

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