„Man muß hier durch“

Die Journalisten im verschneiten Weimar neben sich die Augen: Sie waren zu einer Pressekonferenz ins Rathaus geladen, bei der es um die documenta 9 (1992) gehen sollte. Was hatte die Stadt Goethes und Schillers mit jener Weltausstellung zeitgenössischer Kunst zu tun, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet? Jan Hoet, Museumsdirektor aus Gent und künstlerischer Leiter der documenta 9, antwortete geheimnisvoll: „Man muß hier durch“, um nach Kassel zu kommen.

Konkret heißt das: Am 13. und 14. April 1991 will Hoet, wie berichtet, einen zweiten, einen 24stündigen Gesprächsmarathon über die documenta-Vorbereitungen in Weimar inszenieren. Für Hoet ist Weimar mehr ist als das Zentrum deutscher Aufklärung und Klassik. Für ihn ist dies vor allem die Stadt des Staatlichen Bauhauses, das Walter Gropius 1919 in der von Henry van de Velde erbauten Kunstgewerbeschule gründete und mit dem sich Namen wie Kandinsky, Klee und Feininger verbinden. Das Bauhaus als Schule der Moderne, in der eine Einheit von Kunst, Architektur und Design gesucht wurde, ist nach Hoets Meinung der überragende Bezugspunkt für die erste documenta, die Arnold Bode 1955 in Kassel organisierte.

So wandelten Hoet und sein Team, mit dem er nach der Pressekonferenz durch Weimar zog, auf van de Veldes und Gropius’ Spuren. Dabei zeigte sich, daß der van de Velde-Bau mit seinen großzügigen Seiten- und Oberlichtateliers und seinem oval geschwungenen Treppenhaus durch die Jahrzehnte nichts von seiner klaren und funktionalen Schönheit verloren hat. In dem heute als Hochschule für Architektur und Bauwesen genutzten Gebäude können sogar wieder die (freigelegten) konstruktivistischen Wandmalereien bewundert war.

Je mehr Hoet davon sah, desto sicherer wurde er, mit Weimar den richtigen Ort gewählt zu haben. Denn auch wenn die Verknüpfung von Bauhaus- und documenta-Geschichte logisch erscheint, entspringt die Idee zu dem zweiten Marathon keineswegs einer langfristigen Planung. Das widerspräche Hoets Naturell. Der Museumsmann aus Gent ist immer entschieden. Seine Art, über Kunst zu reden, hat etwas Unbedingtes. Das bedeutet aber nicht, daß er morgen eine Gegenposition zu der einnehmen kann, die er heute vertritt.

So war es auch in diesem Fall. Das zwölfstündige Gesprächsmarathon im Februar dieses Jahres in Gent war als eine ungewöhnliche Annäherung an die nächste documenta gedacht. Hoet wollte seine Zuhörer teilhaben lassen, an der Bilderflut, der er sich bei seinen Reisen zur Vorbereitung der documenta ausgesetzt hatte. Er wollte deutlich machen, wie viele und unterschiedliche Ausstellungen möglich wären.

Die massive Kritik – vor allem aus der documenta-Stadt selbst – an der Tatsache, daß diese Information in Gent gegeben wurde, bestärkte Hoet nur, seinen eigenwilligen Weg fortzusetzen. Zuspitzend entschied er sich für einen 24-Stunden-Marathon – wiederum nicht in Kassel. Wer wollte denn auch etwas gegen Ostdeutschland und die Bauhaus-Stadt einwenden?

Auch in Weimar sollen im April die Freunde der zeitgenössischen Kunst wieder mit Hoet ins Bilder-Chaos eintauchen. Auch hier will er die Fülle ausbreiten, aus der die kleine Auswahl von etwa 120 Künstlern herausgefiltert werden soll. Doch, wie er jetzt versprach, soll schon mehr Konkretes seiner Planung sichtbar werden. Schließlich will Hoet sechs Wochen vor dem zweiten Marathon eine Gesprächsrunde mit neun Künstlern in Kassel arrangieren, deren Teilnahme an der documenta 9 feststeht.

Mit ihnen will Hoet intern sein Konzept diskutieren. Ihre Namen will er dann in Kassel ebenso der Öffentlichkeit präsentieren wie die Namen der neun Künstler, die ein Poster zur documenta 9 entwickeln sollen. „Präzise Informationen“, so Hoet, „gibt es nur in Kassel. Und natürlich die documenta selbst.“

Wenn die documenta-Jünger nach Weimar einfallen, dann sollen sie sich aber nicht nur mit der Kasseler Ausstellung, sondern auch mit der Realität der Klassiker-Stadt beschäftigen: Wer zwischendurch die Lust am Gespräch verliert, soll eines der vielen Museen besichtigen können oder auch die Sonderausstellungen, die die Stadt dann anbieten will. Zur Realität der Goethe-Stadt zählen aber auch die in der Nachbarschaft stationierten Sowjet-Soldaten. Also will Hoet erreichen, daß in einer Pause eine sowjetische Militärkapelle spielt. Musizieren sollen zu einem anderen Zeitpunkt ebenfalls Studierende der Franz-Liszt-Hochschule.

Bevor der Gesprächsmarathon am 13. April um 18 Uhr in der Weimarhalle (1300 Sitzplätze) richtig losgeht, soll außerdem für die thematische Einstimmung gesorgt werden: Filme über die erste documenta von 1955 und den documenta-Begründer Arnold Bode sollen gezeigt werden; und natürlich ein Film über Schwäne, die das Logo der documenta 9 bestimmen.

HNA 13. 12. 1990

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