„Wie man Kunst denkt“

Als vor etwas mehr als 25 Jahren der Name von Harry Kramer erstmals in den Spalten unserer Zeitung auftauchte, eilte dem damals in Paris lebenden 40jährigen Künstler seine Biographie bereits als Legende voraus. Die Geschichte von dem Künstler, der als Schulversager begonnen hatte, sich als Friseur durchs Leben schlagen sollte, bevor er Schauspieler, Tänzer, Filmemacher und Objektbauer wurde, verbreitete sich ebenso schnell wie die Begeisterung für die zarten, skurrilen Drahtobjekte mit ihren ins Leere laufenden Bewegungen.

Harry Kramer war das, was man einen erfolgreichen und vielversprechenden Künstler nennt. Die Kasseler documenta III (1964) hatte ihm und seinen Drahtskulpturen ehrenvollen Ruhm und gute Geschäfte eingetragen. Nun brauchte er eigentlich nur noch auf dem eingeschlagenen Weg zu bleiben.

Aber daraus wurde nichts, weil der Künstler Harry Kramer nichts mehr fürchtet als die Aussicht, zu Lebzeiten in den Schatten der eigenen Biographie zu geraten, also sich selbst und die eigene Kreativität zu überleben. Als Kramer schließlich 1971 dem Ruf nach Kassel folgte und eine Professur an der Hochschule für bildende Künste (heute Teil der Gesamthochschule) annahm, führte er sich erst einmal als Aktions- und Überlebenskünstler ein. Auch in den folgenden Jahren verweigerte er sich der Rolle eines bildende Künstlers der traditionellen Art.

Mal baute er mit seinen Studenten provozierende Maschinenmaschinen, dann malte er strenge Apokalypse-Bilder, und schließlich begann er mit wachsendem Vergnügen, sich in Form des literarischen Essays zu üben.

Kramer ist seinen Interpreten immer zwei Schritte voraus, weil er für sich und seine Studenten erkannt hat, daß weder Medium noch Technik über die Qualität entscheiden, sondern allein die Art und Weise „wie man Kunst denkt“.

Mit diesem Denken ist Harry Kramer zu einem Pionier einer Künstlergeneration geworden, die sich in ihrem schöpferischen Prozeß nicht auf ein Feld eingrenzen läßt. Er ist zudem ein Mann des Kollektivs: „Wenn ich mir keine Gruppe vorstelle, kann ich nicht arbeiten“, sagt er; und am liebsten arbeitet er auch in der Gruppe. Daher Tanz und Film, daher die Liebe zum Lehramt.

Harry Kramer wird heute 65. Kein Grund zum Feiern, meint er, zumal er noch Professor bleiben will, bis sein Nachfolger gefunden ist. Im Moment freut er sich auf eine Retrospektive, die für ihn der Stuttgarter Kunstverein für den Sommer vorbereitet und die dann in seine Geburtsstadt Lingen (Ems) und ins Fridericianum wandern soll. Titel des Katalogs, für den er einen frisch-frechen autobiographischen Essay geschrieben hat: „Ein Friseur aus Lingen“.

Hat ihn also doch seine Biographie eingeholt? Nein, auch wenn er an der eigenen Legende selbst strickt: Mit seinem jüngsten, seit Jahren zielstrebig verfolgten Vorhaben betritt er nicht nur wiederum ein neues Feld, sondern bereitet er auch einen schöpferischen Abgang aus der Kunstszene vor: Im Habichtswald soll eine Totenstadt der Künstler, eine Künstler-Nekropole, entstehen, die der Skulptur im Park in unserer Zeit einen neuen Sinn geben kann.

HNA 25. 1. 1990

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