Im brechend vollen Hörsaal im Kunsthochschulbereich gab Prof. Harry Kramer (67) seine Abschiedsvorlesung.
Jazzklänge aus dem Lautsprecher. Bald sind auch die letzten Stehplätze im Hörsaal an der Menzelstraße vergeben. Und während das Lied von Johnny Guitar ertönt, geht er still und unauffällig nach vorn. Jetzt wirkt Harry Kramer besonders klein und ein wenig müde. Doch gleich ist er das vibrierende Zentrum: Er drückt eine Zigarette in einem weißen Tuch aus und läßt sie darin verschwinden; gleich darauf ist auch das Tuch verschwunden.
Der Künstler als Zauberer, der Hochschullehrer als Schauspieler. Die Abschiedsvorlesung wird zum letzten großen Auftritt vor Studenten, Kollegen, Ehemaligen und Freunden. Die Wehmut ist zu spüren, schließlich war Kramer die künstlerische Identifikationsfigur der Kasseler Hochschule – auch in den kunstarmen Zeiten.
Vielleicht wären viele Augen feucht geworden, doch Kramer verstand es, dieser Gefahr vorzubeugen. Denn für den Auftritt vor dem großen Publikum, den er gar nicht so liebt, hatte er sich mit einem Panzer aus Sarkasmus und Zweifeln kostümiert. Im Stile Bukowskis rechnete er mit sich und seiner Kasseler Professorenzeit ab. Der Frisör, Tänzer, Puppenspieler, Bildhauer und Aktionskünstler schied als Literat, verpackte seinen Lebensbericht in bissige Sprachbilder und Aphorismen.
Schon aus dem Katalog Ein Frisör aus Lingen (1990) kennt man Harry Kramers autobiographische Erzählweise. Er spricht über sich in der dritten Person und kann sich so auch selbst erbarmungslos vornehmen. Der Ton in dem Lebensbericht über seine Kasseler Zeit ist noch eine Spur schärfer und sarkastischer geworden. Warum habe ich diese Lehrtätigkeit auf mich genommen, läßt er immer wieder eine seiner beiden widerstreitenden Stimmen fragen. Kunststudenten, die noch an die eigene Berufung glauben, könnten nach dieser Lesung in Verzweiflung geraten. Sind sie nicht alle zusammen auf dem Irrweg?
Aber das, was Kramer da liest, ist weder Fazit noch Handreichung, sondern Literatur, genährt zwar von realen Zweifeln, doch auch aus Angst vor Sentimentaliät radikalisiert. Denn zwischendrin ist auch Kramers Liebe zu seinem Professorenberuf herauszuspüren, sein Ernst und auch der Stolz auf seine exzellenten Studenten. Sie waren eben doch nicht alle nur Revoluzzer und Latzhosenträger, wie sie Kramer zum Anfang seiner Zeit hier angetroffen hatte.
HNA 24. 4. 1992