Die vielen Leben des Harry K.

Mit einer Lesung aus seinem neuen Buch „Der Alleinunterhalter“ im Kasseler Kunstverein feiert Harry Kramer heute seinen 70. Geburtstag.

Ein Mann fürs Ungewöhnliche. Er wollte, nach eigenem Bekenntnis, nicht in den Schatten seiner Biographie geraten. Drum wich er sich selbst aus und tummelte sich immer wieder auf Feldern, auf
denen man ihn nicht vermutete. Jetzt aber, da das Lebenswerk überschaubar wird und die Biographie ihn trotz aller Fluchten einzuholen droht, dreht er den Spieß um und schreibt selbst nun lustvoll an
der eigenen Geschichte, wohl wissend, daß er allein sie drehen und wenden kann, wie er will, und daß nur er die besten Legenden über sich in die Welt setzen kann.

„Der Alleinunterhalter“ heißt sein eben fertig gestelltes Buch, in dem er eine Bilanz der Bilanz
zieht. Narziß auf der Suche nach spiegelnden Folien? Nein, selbstverliebt ist er nicht. Hart und unerbittlich springt er mit sich um. Er geht auf Distanz zu sich, spricht über sein Leben wie über die Existenz eines Dritten, führt mit sich selbst ein Interview: Harry Kramer kommt an sich selbst nicht vorbei. Aber nicht nur deshalb, weil er sich so wichtig ist, sondern auch weil er, als er auf die 65 zuging, eine neue Seite in sich entdeckte – den Schreiber, den Literaten.

Genau darin liegt das Phänomen des Harry K.: Er, der als Frisör aus Lingen seinen Lebensweg begann, hat so viele Möglichkeiten des Künstlertums in sich entdeckt, daß er es sich leisten konnte, viele Leben zu leben und dabei der gleiche zu bleiben. Frisör war er und Schauspieler, Tänzer und Filmemacher, Objektbauer und Hochschullehrer, Aktions- und Überlebenskünstler. Dabei probierte er nie aus, um bloß präsent zu sein, sondern machte jede Sache ganz und perfekt. Nicht umsonst faszinierten seine poetisch-zarten Drahtskulpturen 1964 auf der documenta und nicht zufällig schuf er mit seinen aus Brot geformten Köpfen eindringliche Zeichen der Vergänglichkeit.

Zeit und Vergänglichkeit und die Flüchtigkeit des Gegenwärtigen (auch des handfest geschaffenen Werkes) waren immer Bewußtseins-Konstanten in seinem Schaffen. So konnte er auch vor Jahren einen unerbittlichen Schlußstrich unter seine bildnerische Arbeit ziehen und sich von seinem in Jahren gewachsenen Werk mit einem Schlag trennen. Aber diese Trennung vollzog er nicht als Zweifelnder, sondern im Gefühl einen Wert geschaffen zu haben: Mit der Abtretung seiner Werke legte er die finanzielle Basis für das Gesamtkunstwerk, an dem er immer noch arbeitet – für die Künstler-Nekropole, die im Habichtswald begonnen wurde und wachsen soll. In ihr wird er nicht direkt verewigt. Er schwebt, leicht und verschmitzt, als Schöpfer über ihr. Auch schon zu Lebzeiten. Heute wird nun dieser Harry Kramer 70 Jahre alt.

HNA 25. 1. 1995

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