Künstler als Sensorium

Während des Gesprächs fährt seine Hand gelegentlich mit dem Federhalter über das weiße Papier. Feste kurze Striche summieren sich zu Mustern, zierliche plastische Projektionen entstehen. Hat das, was er da zeichnet, mit seinen Bildern und Plastiken zu tun? Der in Mailand lebende Künstler Remo Salvadori (Jahrgang 1947) schüttelt den Kopf. Nein, das sind Antworten auf die Geräusche, die in den Raum eindringen.

Der Künstler als Sensorium: Gefragt, ob er bereits Vorstellungen von dem habe, was er zur nächsten documenta machen werde, meint der Italiener, er habe jetzt ein Gefühl für die Temperatur, die hier herrsche, für das Klima der Räume, die zur Verfügung stehen. Remo Salvadori, der seit 1973 an Ausstellungen teilnimmt und sich auch an der documenta 7 (1982) beteiligte, läßt sich auf nichts ein, was seine Arbeitsweise direkt charakterisieren könnte. Lieber erzählt er von den Eindrücken und Stimmungen, die er aus Kassel mitnimmt, von seinen Spaziergängen durch den Park, von den Bäumen und vom Licht. Ein Romantiker? Vielleicht. Ein Poet? Gewiß.

Je länger und intensiver Remo Salvadori spricht, desto stärker scheint er sich den konkreten Fragen nach seiner Arbeit zu entziehen. Der Eindruck ist falsch, weil Salvadoris Vorgehensweise nicht den überkommenen Vorstellungen entspricht. Er ist an kein Medium gebunden, ist weder der Skulptur noch der Malerei oder Zeichnung verpflichtet, sondern beginnt als Künstler jedes mal neu: Mit großer Offenheit nimmt er die auf ihn eindringenden Einflüsse in sich auf, registriert er Raumgestalt und Klima, Formen und Farben, Natur und Menschen, um dann auf die Situationen mit sehr dichten, poetischen Bildern zu reagieren.

Diese Bilder, im Sinne von Installationen eher als Bildräume zu verstehen, werden nicht in langen Prozessen vorbereitet, sondern sie brechen hervor oder stellen sich auf organische Weise ein. Ein Objekt wie ein Stativ kann sich dabei in eine Skulptur verwandeln, es kann aber auch ebenso gut zu einer gezeichneten oder gemalten Bildprojektion werden. Genauso kann sich die als Wandzeichnung entworfene Halbkugel oder Schale von der Fläche ablösen und zur Raumfigur werden. Es sind stille, plastische Visionen von überraschender Farbigkeit. Sie geben keine Antworten, sondern stellen Fragen, sie erklären die Welt mit schönen Rätseln, sie laden zur poetischen Betrachtung ein.

Das Atelier ist ein Raum, der sich ständig verändert, sagt Salvadori. Wenn man den Katalog durchblättert, der im Sommer anläßlich seiner großen Werkschau in Grenoble herausgegeben wurde, kann man genauso sagen: Remo Salvadoris Werk ist eine Kunst, die sich ständig ändert – und eben darin sich gleichbleibt.

HNA 11. 10. 1991

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