Ein neuer Hang zum Animalischen

Bilderflut, Weltsicht, Selbstverständnis, Gentechnik und Klonen: Der Neurophysiologe Detlev Linke schritt in seinem „100 Tage“ -Diskussionsbeitrag einen atemberaubenden Weg ab.

Schon die Psychoanalytikerin Suely Rolnik hatte, als sie über Lygia Clark sprach, gemeint, wir müßten das in uns schlafende Tier wecken. Es gelte, den ganzen Menschen erlebnisbereit zu machen. Der Neurophysiologe Detlev Linke schloß daran nahtlos an: Wir sollten das Animalische im Menschen stärker betrachten. Es gehe nicht an, daß wir uns als engelhafte Wesen fühlten, doch wenn es ums Überleben ginge, wir uns der tierischen Seite erinnerten und uns bedenkenlos eine Schweineleber einpflanzen lassen würden. Immer wieder wies Linke auf das Widersprüchliche im Menschen hin: Wohl lasse er sich gern als ein Wesen einordnen, das im Sinne Kants zu Würde und Freiheit bestimmt sei, doch wenn Vergänglichkeit und Tod drohten, seien wir zu jedem Kompromiß bereit. Also versteht er den documenta-Beitrag „Das Haus für Schweine und Menschen“ von Rosemarie Trockel und Carsten Höher als eine Bewußtseinshilfe.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, Artikel 1 des Grundgesetzes. Die Unesco formuliert vor dem Hintergrund der fortschreitenden Gentechnologie anders: Die Würde des menschlichen Genoms ist zu schützen. Was bedeutet dieser Unterschied? Eine Frage, mit der Detlev Linke wieder auf
das Menschenbild zu sprechen kommt. Unklar ist: Ist es überhaupt gut, eines zu haben, oder würde ein solches, allgemeinverbindlich gemacht, nicht – beispielsweise – die Freiheit des Individuums einschränken? Wo aber ist dann die Grenze zu ziehen? Bei Mensch-Maschine-Koppelungen, Chips, die ausgefallene Körper- bzw. Gehirnfunktionen übernehmen? Bei implantierten Tierorganen, bei Eingriffen in den genetischen Code? Das Zauberwort, um all dies zu legitimieren, so Linke, heißt Therapie. Die Frage ist, ob angesichts dieser Tatbestände die Würde des Menschen zuallererst in der Minderung von Leiden bestehen kann. Schlägt dieser ethische Ansatz nicht um in Verachtung des Unvollkommenen?

Das Klonen von Menschen ist für Linke die logische Fortsetzzung der Single-Kultur – die auf die Spitze getriebene Individualisierung. Deshalb sieht er auch den Boden für die gesellschaftliche Akzeptanz des Klonens bereitet. Wenn Kinder so etwas wie die Verlängerung der eigenen Existenz sind, muß man denn seine Gene, den Ausweis seiner Individualität, tatsächlich dem Risiko der Vermischung aussetzen? Flucht in die Ironie: Einem Partner wird man angesichts ungeliebter Eigenschaften des Sprößlings nicht mehr vorwerfen können: „Das hat er von Dir!“ Am meisten überrascht, in welcher Beiläufigkeit Linke davon spricht, daß eines Tages jeder, der nur wolle, sein eigenes konfliktfreies Abbild haben könne.

Als Peter Weibel und Otto E. Rössler gemeinsam in der documenta-Reihe „100 Tage – 100 Gäste“ auftraten, hatte Weibel zeitweise wie ein um Aufmerksamkeit heischender Junge Video-Szenen zu Rösslers Vortrag ablaufen lassen. Linke nun kultivierte ein noch größeres Wort- und Bilderchaos: Zu seinem Vortrag ließ er parallel (übereinander) zwei Spielfilme zeigen, die vordergründig mit seiner Rede nichts zu tun hatten, aber die Problembereiche (das Animalische und das Klonen) berührten. Über die Filmszenen projizierte er noch erläuternde Dias. Dergleichen, so erklärte er, sei in amerikanischen Kongressen nicht unüblich. Da man nicht wisse, welche Bilder wie und wo die Zuhörer erreichten, und da neben der durch das Wort in Anspruch genommenen linken Hirnhälfte auch die rechte etwas zu tun haben solle, sei es sinnvoll, mehrere Projektionsebenen zu schaffen. Meistens werde das Gehirn unterfordert.

Dirk Schwarze/Werner Fritsch

HNA 27. 8. 1997

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