Ausstellung im Internet gestartet

Drei Monate vor ihrem Beginn wurde die documenta virtuell eröffnet. Ab sofort kann jeder mit Internet-Zugang sich über die Kunstschau informieren und Künstlerprojekte erkunden.

Vor fünf Jahren war die Kasseler documenta eine nahezu traditionelle Kunstschau. An ihrem Rande versuchte sich das „van Gogh TV“ mit Hilfe von Post und 3sat an einem interaktiven Fernsehen. Täglich 90 Minuten lang sollten Zuschauer miteinander kommunizieren können. Bis zu vier Zuschauer gleichzeitig sollten sich per Tastentelefon in das Programm einschalten können. Die Ergebnisse waren bescheiden.

Der documenta X nun öffnet sich rund um die Uhr für das weltumspannende elektronische Kommunikationsnetz – das Internet. Und sie nutzt dieses nicht nur, um über Konzepte, Orte, Termine, Preise und Unterkunftsmöglichkeiten zu informieren, sondern um Künstlern eine neue Gestaltungsmöglichkeit zu schaffen. Eine Ausstellung, die nach der Form und Funktion der Bilder am Ende des 20. Jahrhunderts fragt, kommt gar nicht daran vorbei, auch diese neue Sprach- und Bildebene einzubeziehen. Für jüngere Künstler ist der Umgang mit diesen Computertechniken ebenso selbstverständlich wie die Arbeit mit Stift oder Pinsel.

Zehn von Künstlern geschaffene Projekte, die nur im Internet gesehen und erlebt werden können, sind ab sofort zugänglich. Simon Lamunière, der als Kurator das documenta-Internet-Konzept seit Juli vorigen Jahres entwickelt, rechnet damit, daß bis zur documenta-Eröffnung etwa 30 bis 50 Künstlerarbeiten virtuell zu erleben sein werden.

Wie stark das Programm genutzt wird, ist noch nicht abzuschätzen. Der Computer-Hersteller IBM, der das Projekt sponsert und für die Technik sorgt, ist aber optimistisch. Dort hält man zwei bis 17 Millionen Anfragen täglich für möglich. 17 Millionen waren es bei den Olympischen Spielen in Atlanta, so Bernd Puschendorf von IBM. Die Software für das Programm ermöglicht das Kasseler Unternehmen SBK.

Wer im „Kunstprojekt website“ elektronisch spazierengeht, wandert aber nicht durch eine Ausstellung. Die Künstler haben ganz eigene Arbeiten entwickelt, die eher an Wanderungen durch Irrgärten oder an Spiele wie „Stille Post“ erinnern. Unter dem Namen „without addresses“ (Ohne Anschriften) laden Joachim Blank und Karl-Heinz Jeron zu einem Spaziergang auf einem Stadtplan ein. Jeder Teilnehmer, der sich mit Namen anmeldet, hinterläßt in dem Wegesystem seine Spuren, die von anderen nachvollzogen werden können. So schreibt sich der Plan ins Unendliche fort. Der vor wenigen Tagen gestorbene Künstler Martin Kippenberger hat eine weltweite Übersicht über U-Bahn-Eingänge erstellt: Er hat Bilder von Treppen, die in der Landschaft in die Tiefe führen versammelt und so auch antike „Metro-Stationen“ erfunden.

Die meisten der bisher entwickelten Internet-Arbeiten fordern den Spiel- und Erforschungstrieb heraus und stecken voller Witz. Die Adresse der documenta X im Internet lautet www.documenta.de
Neben Informationen sind dort in drei Untergruppen Künstlerprojekte zu finden: Surfaces & Territories, Groups & Interpretation, Cities & Networks.

Kommentar

Was gab es nicht für Unkenrufe! Ängstlich bis hämisch wurde gefragt, ob das denn noch was werde – mit der Kasseler documenta? Und je länger documenta-Leiterin Catherine David ihre Ausstellungsplanung hinter einer Nebelwolke verbarg, desto stärker wichen ihre Kritiker auf Nebenschauplätze aus.

Und nun? Auf einmal reiben sich die Skeptiker die Augen, weil sie die documenta auf der Zielgeraden sehen: Nach einer geradezu bühnenmäßigen Regie wird hier und da der Vorhang gelüftet und werden einzelne Künstler mit ihren Projekten benannt. Man sieht, wie die Stränge des Konzepts gebündelt werden und gewinnt Gewißheit, daß die Ausstellung wächst. Selbst der schwierige Umgang mit den Sponsoren wird in überzeugender Weise inszeniert. Jeder der vertraglichen Förderer bekommt in seinen Zusammenhängen eine Präsentation, wobei gleichzeitig die documenta spezielle Orte und Projekte vorstellen kann.

Die Qualität und Vitalität der Ausstellung wird man erst ab 21. Juni prüfen können. Aber schon jetzt ist klar, daß sie sich ins Experimentelle vorwagt und auch die virtuellen Bilder einbezieht. Schnupperkurse zur documenta gab es noch nicht. Ab sofort sind sie im Internet möglich.

HNA 22. 3. 1997

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