Aufbruch und Wanderschaft

Als dritten Regisseur, der im Auf trag der documenta X einen Film dreht, stellen wir den aus Mauretanien stammenden Abderrahmane Sissako (Jahrgang 1961) vor.

Die am 21. Juni beginnende documenta X wird sich um eine umfassende Bestandsaufnahme der kulturellen Situation am Ende des 20. Jahrhunderts bemühen. Dabei stellt sich – wie schon bei den früheren documenten – die Frage, in welcher Form die Künstler der sogenannten Dritten Welt zu berücksichtigen seien. Jan Hoet war 1992 der erste Ausstellungsmacher, der sich intensiv mit dieser Frage auseinandersetzte und Künstler aus den kulturellen Randzonen mit einbezog.

Catherine David vertritt im Grundsatz keine andere Position als ihre Vorgänger, die meinten, daß es keine Basis für einen Dialog zwischen den verschiedenen Kunstregionen gebe. Trotzdem glaubt sie, daß die Länder und Kulturen Afrikas oder Asiens Wesentliches zur kulturellen Bestandsaufnahme beizutragen haben – und wenn nicht auf dem Gebiet der bildenden Kunst, dann im Film, in der Literatur oder Philosophie. Aus diesem Grund ist das documenta-Konzept so weit gefaßt wie nie zuvor, gehören Wort- und Diskussionsbeiträge gleichwertig zum documenta Programm wie Filme oder Bilder.

Der aus Mauretanien stammende Abderrahmane Sissako ist ein Regisseur, der in dieser Hinsicht das Spektrum erweitern soll. Er steht aber nicht nur für einen Ausschnitt der afrikanischen Kulturen, sondern für die moderne Verknüpfung gegensätzlicher Welten. Geboren wurde er im mauretanischen Kiffa, er wuchs in Mali auf, studierte Filmtechnik in Moskau (damals noch Sowjetunion), und er lebt heute in Paris. Alle Gegensätze unserer Zeit scheinen sich in diesem Schicksal zu verbinden. Er ist der Typ des künstlerischen Intellektuellen, der ewig auf der Wanderschaft ist, der einen Geburtsort und viele Wohnorte, aber keine Heimat hat. Abderrahmane Sissako hat seit 1989 drei Kurzspielfilme gedreht. Für die documenta hat er unter dem Titel „Rosto – Luanda“ einen Dokumentarfilm in Angriff genommen, in dem er ähnlich vorgeht wie Raoul Peck bei seinem documenta-Film: Indem er von anderen und von wechselnden Orten erzählt, begibt er sich zugleich auf die Suche nach der eigenen Geschichte und Identität.

Bevor Sissako in Moskau Film studieren konnte, musste er für ein Jahr nach Rostov (Rostow) am Don, um dort Russisch zu lernen. Auf der Fahrt dorthin traf er Baribanga, einen anderen Afrikaner mit dem gleichen Reisezweck und -ziel. Er freundete sich dem Mann aus Angola an. Der Film berichtet nun davon, wie sich ein Dutzend Jahre später Sissako auf die Suche nach dem früheren Freund macht und eine Brücke schlägt vom russischen Rostov nach Luanda (Angola). Was ist aus Freund in dem Land geworden, das Jahrzehnte lang unter Krieg leiden mußte? Wie überhaupt hat sich Afrika inzwischen entwickelt? Und wo endlich ist der Platz des Filmautors, der in Paris lebt? Der Film greift viele dieser Fragen auf.

HNA 19. 3. 1997

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