Turm der „Heiligen“

Die Struktur der documenta 9 wird an den Ausstellungsorten festgemacht. Deshalb wollen wir in einer lockeren Serie einzelne documenta-Künstler in Bezug zu den Orten vorstellen.

Die documenta, immer noch die wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst, braucht stets viel Raum. Noch nie zuvor aber erstreckte sich die Kunstschau auf so viele Spielorte (mindestens acht), wie es bei der documenta 9 der Fall sein wird, die für die Zeit vom 13. Juni bis 20. September vorbereitet wird. Doch diese Expansion ist nur in zweiter Linie auf den reinen Flächenbedarf zurückzuführen.

Der künstlerische Leiter der documenta 9, der Belgier Jan Hoet, will vielmehr die Ausstellung sichtbar in die Stadt und deren Struktur einbinden und gleichzeitig dem Publikum ermöglichen, die Kunst in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen zu erleben. Er sieht die Ausstellungsorte als Gebäude mit einem bestimmten Charakter und Klima: Palastartiger Bau (Museum Fridericianurn), historisches Theater (Ottoneum), bürokratischer Bau (neue documenta-Halle), temporäre Pavillons, Museum (Neue Galerie), individuelles Wohn- und Geschäftshaus und Verwaltungsgebäude (AOK). Entscheidend ist für Hoet der Gedanke, alle Ausstellungsorte gleichgewichtig zu behandeln und die Kunstwerke in Bezug zum Raum zu setzen.

Als der Genter Museumsdirektor seine Planung begann, stand für ihn fest, daß er ausschließlich Werke von lebenden Künstlern vorstellen werde. Gleichwohl entwickelte er frühzeitig die Idee, an einer Stelle der Ausstellung zu zeigen, auf welchen Kunstvorstellungen seine Auswahl gründet, was zum „kollektiven Gedächtnis“ gehört oder was er, wie er es ausdrückt, „im Rucksack“ hat, Nachdem Hoet anfangs gedacht hatte, drei kunsthistorische Werke in einem Glashaus zu präsentieren, hat er nun den Zwehrenturm als idealen Ort für seine subjektive Kunstgeschichte entdeckt. In ihm will
er anhand von ausgesuchten Werken die Künstler vorführen, die für ihn zu den Einzelgängern und „Heiligen“ gehören.
Der Zwehrenturm am Steinweg in Kassel wirkt so, als sei er an das Museum Fridericianum angebaut. In Wahrheit verhält es sich umgekehrt: Der gotische Rechteckturm ist mehr als 400 Jahre älter als das Fridericianum. Der Turm mit seinem spitzbogigen Durchgang diente seit dem 14. Jahrhundert als Stadttor. 1709 wurde auf dem Turm eine Sternwarte errichtet.

Hoet möchte den Turm nun auch als Observatorium nutzen, als den Ort, von dem aus die Besucher den Zugang zu der ausgewählten aktuellen Kunst gewinnen können. Zu diesem Zweck will er Werke folgender sechs Künstler im Zwehrenturm versammeln: Jacques Louis David, Paul Gauguin, Alberto Giacometti, Barnett Newman, Joseph Beuys und James Lee Byars. Unter diesen Künstlern, die 200 Jahre Kunstgeschichte repräsentieren, ist Byars der einzige Lebende.

Besonders stolz ist Hoet darauf, daß der Pariser Louvre für diese Konstellation die Replik des David-Gemäldes „Der ermordete Marat“ ausleihen will. Die legendäre Marat-Darstellung, die erstmals in Deutschland zu sehen sein wird, ist für Hoet ein Schlüsselwerk der Kunst: Es ist das Bild der Revolution und des unbedingten Freiheitswillens; zugleich ist es das Bild, in dem das Motiv des toten Christus (Pieta) aus dem religiösen in den alltäglichen Bereich übertragen wird; und schließlich sieht Hoet in dem Marat-Gemälde ein Werk, in dem sich die Autonomie der Kunst manifestiert und das freie Künstlertum begründet.

Im „Turm der Heiligen“ wird hingegen kein originaler Gauguin zu sehen sein: Für ein Gauguin-Bild allein hätte die documenta eine Versicherungsprämie in Höhe von 500 000 Mark zahlen müssen. So will Hoet sich mit einer Reproduktion begnügen und die Kunstmarktpraxis mit ihren völlig unsinnigen Versicherungsforderungen dokumentieren.

Große Einzelgänger mit weitreichendem Einfluß sind für Hoet auch Giacometti, Newman und Beuys. Vor allem auf Giacomettis Werk „Die Nase“ hat Jan Hoet in seinen jüngsten Vorträgen zur documenta 9 immer wieder hingewiesen. In dieser Arbeit schlägt Giacometti einen Ton an, den Hoet in vielen zeitgenössischen Arbeiten aufzuspüren meint:
Der Käfig, in dem der Kopf hängt, zeigt die Enge, die Begrenzung und das Gefangensein des Menschen an. Die überlange Nase aber bricht den Käfig auf, versucht, die Freiheit zurückzugewinnen. Was in anderen zeitgenössischen Arbeiten aber als ein Sinnbild der Aggression verstanden werden muß, hat hier einen eher melancholisch-ironischen Zug.

Daß auch Beuys dabei ist, versteht sich beinahe von selbst – nicht nur, weil Hoet sehr frühzeitig den deutschen Künstler für sich und sein Genter Museum entdeckte. Bei seinen Gesprächen mit jungen Künstlern hat Hoet, so berichtet er, immer wieder feststellen müssen, wie viele von ihnen sich auf Beuys und dessen künstlerische Vorstellungen beziehen – auch gerade dann, wenn sie in völlig anderer Weise arbeiten.

HNA 15. 3. 1992

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