Die Schaup1ätze der documenta 9 und ihre Künstler. Als vierten Ort stellen wir das Ottoneum vor.
Obwohl wir wissen, daß sich die Denk- und Arbeitsweisen vieler Künstler grundsätzlich geändert haben, gehen wir häufig von einer traditionellen Vorstellung aus: Wir sehen den Künstler immer noch als einen Zeitgenossen, der angetrieben von seinen Erfahrungen und Visionen, fernab der Welt in seinem Atelier seine Werke vollendet.
Gewiß gibt es auch heute noch Maler und Bildhauer, die so vorgehen. Doch daneben ist eine große Gruppe von Künstlern herangewachsen, die ihre Werke ausschließlich im Dialog mit der Welt entwickeln, die nichts Fertiges in die Ausstellungen hineintragen, sondern für jeden Anlaß und Ort eine neue Arbeit konzipieren, die nur dort funktioniert und existiert. Jeder dieser Künstler hat eigene Ansatzpunkte und Vorgehensweisen. Doch erstaunlich ist, wie viele darunter sind, die Forschern gleichen. Sie greifen reale Probleme auf und studieren sie systematisch, oder sie erfinden Situationen, die sie mit wissenschaftlicher Logik ausleuchten, und setzen dann die Erkenntnisse und Gedankengebäude in Zeichen und Bilder um.
Der Düsseldorfer Künstler Lothar Baumgarten steht dafür. Er lebte beispielsweise längere Zeit bei indianischen Völkern in Südamerika, die noch nicht von der westlichen Zivilisation erfaßt und niedergewalzt waren. Er studierte den geistigen und sprachlichen Reichtum der Indianer und setzte ihnen bei der documenta 7 (1982) im Museum Fridericianum ein Denkmal: In der Kuppel der Rotunde ließ er in einer klassischen Schrift die Namen der Völker, die selbst über keine eigene Schrift verfügen, auf die Wand malen. Diese Arbeit stellte den Zusammenhang zwischen Kultur und Natur her und ließ zugleich die Künstlerpersönlichkeit total zurücktreten. Da gab
es weder eine Handschrift noch ein Werk, das jemand hätte erwerben können.
Der zweite Beitrag Baumgartens zur documenta 7 war ähnlich angelegt: Nach seinen Vorgaben wurde aus rotem Sandstein ein Gedenkstein angefertigt und für die Dauer der documenta in die Wand des Fridericianums eingelassen. Baumgarten widmete diesen Stein dem Weltreisenden, Naturforscher, Schriftsteller und Revolutionär Georg Forster (1754- 1794). Die relativ unauffällige Arbeit blieb aber nicht ohne Wirkung. Sie trug dazu bei, daß sich insbesondere die Hochschulöffentlichkeit wieder an Forsters Wirken in Kassel erinnerte und daß es heute vielfältige Monumente für diesen Forscher in Kassel gibt.
Auch wenn Baumgarten jetzt wieder zur documenta nach Kassel kommt, will er erneut zur Aufarbeitung von Forsters Wirken beitragen. Seinen künstlerischen Beitrag zur documenta kann er in diesem Jahr noch besser im Spannungsfeld von Kultur und Natur plazieren – im Ottoneum, das als Naturkundemuseum dient. Das Ottoneum liegt genau an der Achse, die vom Museum Fridericianum zur neuen documenta-Halle führt. Das baulich stark heruntergekommene Haus wird (mit seinem Erdgeschoß) erstmals in die documenta einbezogen. Nach den Vorstellungen von documenta-Leiter Jan Hoet soll es zu einem Haus der Stille werden, zu einem Ort des Dialogs mit der Geschichte, zumal es selbst ein aufregendes Kapitel in der Kulturgeschichte darstellt: Der hessische Landgraf Moritz ließ das Ottoneum (benannt nach seinem Sohn Otto) 1603 bis 1606 von Wilhelm Vernukken als Schauspielhaus errichten. Es war das erste geschlossene Theatergebäude Deutschlands. Doch schon im 30jährigen Krieg diente der Bau als Gießhaus und Garnisonkirche. 1669 wurde das Ottoneum zum Kunsthaus umgebaut und zehn Jahre später wurde hier eine naturwissenschaftliche Hochschule etabliert. Seit 1884 ist in dem Bau das Naturkundemuseum angesiedelt.
Die russische Künstlerin Maria Serebriakova hat diese wechselvolle Geschichte eingehend studiert. In ihrer Arbeit, die sie für die documenta und das Ottoneum entwickelt, wird sie die Geschichte dieses Hauses spiegeln. Ein weiteres Beispiel dafür , dass bei dieser documenta die Nutzung der verschiedenen Orte von inhaltlichen Bezügen bestimmt wird.
HNA 19. 4. 1992