Vergessen ist sie noch nicht, die Fuhre Mist, die 1972 ein deutschnationaler Bauer vor dem Museum Fridericianum ablud. Die stinkende Ladung hatte der Öffentlichkeit klar machen sollen, was er und seine Gesinnungsgenossen von der documenta hielten. Viel lauten Beifall erhielt der Bauer nicht. Doch wenn man sich daran erinnert, was im selben Jahr der Kolumnist Thilo Koch zur Gegenwartskunst von sich gab, dann darf man von einer breiten Zustimmung zu der Aktion des Bauern ausgehen.
Es war damals nicht nur ehrlich, sondern auch chic, sich unverständig gegenüber der Kunst der Moderne zugeben – so wie es heute chic ist, sich mit moderner Kunst zu schmücken. Es ist, als hätten sich die Wertvorstellungen völlig verkehrt: An die Stelle der Ablehnung ist eine bedrängende Liebe zur Kunst geworden. Während sie sich früher heftig verteidigen mußte, muß sie sich nun der Umklammerung durch jene erwehren, die sie als Vehikel für Ansehen und Geschäfte benutzen wollen.
Die documenta und die Stadt profitieren von diesem Wandel enorm. Man hat das Gefühl, die documenta sei zu einer Massenbewegung geworden. Wenn selbst schon die Polizei ihren Exkollegen Anatol ausgräbt und ihn mit Hilfe eines Vereins für die documenta-Zeit nach Kassel verpflichtet, muß es bedenklich gut um die Kunst stehen. Schon heute kann man sicher sein, daß in den Parallelausstellungen der Galerien, der Kirche, der Gruppe Stoffwechsel und anderer ein Vielfaches der in der documenta gezeigten Kunstwerke zu sehen sein wird.
Nicht zu vergessen die anderen Veranstaltungen und Aktionen: Filmreihen, Jazzkonzerte, Theater und Kleinkunst. Der documenta-Sommer wird für 100 Tage Festival-Sommer – mit Strahlkraft weit über Kassels Grenzen hinaus. Alle, die als Akteure auftreten, haben natürlich die stille Hoffnung, das aus aller Welt anreisende Publikum und die internationale Kritik würden ein Auge auf ihre Ausstellung oder Aktion werfen. Das wird nur in Ausnahmefällen passieren. Aber wir, die ortsansässigen Zuschauer, können erfreut sein: Kassel wird kulturell so stark wie nie zuvor pulsieren.
Freuen wir uns also auf den Sommer. Nur sollten wir nicht glauben, daß der ganze Rummel einem gewachsenen Kunstverständnis zu verdanken wäre. Vielleicht sind die Vorbehalte geschrumpft, die generelle Distanz ist aber geblieben. Aber mittlerweile liebt man eben die documenta-Kunst, wie man das Exotische und das Verrückte liebt. Weil drumherum soviel passiert, will man mit dabei sein.
HNA 4. 4. 1992