Weltweiter Dialog am Bildschirm

Die documenta 9 schafft den Rahmen: 100 Tage lang will 3sat per Kabel und Satellit in Blöcken ein Programm ausstrahlen, in das sich Zuschauer per Tastentelefon und Fax einklinken können.

Ob die kommende documenta ein Forum für die Innovation von Kunst sein wird, muß sich zeigen. Für die Nutzung und Vernetzung der elektronischen Medien aber wird sie auf jeden Fall einen spürbaren innovativen Schub bedeuten. Diese Erneuerung kommt jedoch nicht aus der Ausstellung selbst, sondern aus einem künstlerisch-technischen Projekt, das sich das weltweite Interesse an der documenta zunutze macht.

Interaktives Fernsehen heißt das Motto: Die Zuschauer können das Programm bestimmen und gestalten. Damit ist aber nicht gemeint, daß Wunschfilme oder -videos gezeigt werden. Überhaupt muß man alle herkömmlichen Vorstellungen von Fernsehen und Video vergessen, wenn man von dem Projekt „Piazza Virtuale“ spricht, das derzeit das aus Hamburg kommende „van Gogh TV“ in Kassel in einem Containerblock (in der Karlsstraße) vorbereitet. Es wird in diesem 100-Tage-Programm, das 3sat täglich zwischen 11 und 12.30 Uhr sowie in den Nächten von Freitag auf Samstag und Samstag auf Sonntag ausstrahlt, weder Filme noch Moderationen geben. Mit Hilfe eines Computers werden vielmehr Programmblöcke angeboten, die die Zuschauer weltweit zum Mitspielen und Mitgestalten einladen.

Zu diesem Zweck wurde eine neue Fernsehoberfläche gestaltet, die dem hochentwickelten Computerbild ähnlicher ist als dem Fernsehbild. Beispielsweise wird die Einladung zu einem Musikprogramm ausgesendet.

Über ein Tastentelefon können sich bis zu vier Zuschauer gleichzeitig in das Programm einwählen (0561 / 71 00 40 /41/42/43). Jedem der vier wird jeweils ein Instrument zugewiesen, das sie nun über ihre Telefontastatur zum Klingen bringen können. In dem einen Fall kann daraus ein musikalisches Chaos werden, im anderen ein richtiges Musikstück.

In anderen Blöcken kann man mit der Telefontastatur kleine Sätze schreiben, Grafiken zeichnen oder über die Tastatur eines Klaviers fahren. Das Team von „van Gogh TV“, das mit künstlerischen Mitteln neue Formen der Kommunikation einüben will, hat eine Reihe von Programmstrukturen erarbeitet, die auf die Reaktion der Zuschauer setzen. Wie gestern bei einer Pressekonferenz in Kassel erläutert wurde, werden aufgrund der Reaktionen die Programme weiterentwickelt. Die Zuschauer werden die Möglichkeit erhalten, persönliche Bekenntnisse zu senden (,‚Beichtstuhl“), Ideen und Dinge anzubieten (,‚Marktplatz“), sich zur Kunst zu äußern und ein Lernprogramm durchzuspielen.

Wer über ein Bildtelefon, ein Fax oder einen Computer mit Modem verfügt, kann sich auch mit Hilfe dieser Medien in die Sendungen einschalten. Außerdem wird es am Sendeplatz in Kassel möglich sein, über ein Standkamera in das Programmspiel einzugreifen.

Ganz gleich, wie die Ergebnisse qualitativ aussehen, ist schon jetzt absehbar, daß für die Daten- und Kommunikationstechnik diese Aufhebung der Fernseh-Einbahnstraße äußerst interessant ist. So ist denn auch verständlich, daß sich neben vielen kleinen Förderern 3sat, Telekorn und Electronic Data Systems (EDS) als Hauptsponsoren des aufwendige Projekts zur Verfügung stellen. Dazu kommt noch das österreichische Ministerium für Unterricht und Kunst, das systematisch den Zwischenbereich von Medien und Kunst fördert.

HNA 27. 5. 1992

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