Naturalien-Kabinett

Ausstellung Rolf Escher: Naturalien-Kabinett, Galerie Frye & Sohn, Münster

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

in der „Zeit“ der vorigen Woche war eine Buchbesprechung zu lesen, die unter der provokativ-ironischen Überschrift „Anbeter des Mistkäfers“ stand. Geschrieben hatte den Artikel die aus Stuttgart stammende Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die mir seit ihrem Roman „Apostoloff“ als eine der sprachmächtigsten deutschen Autorinnen erscheint. Der Roman ist eine zugleich heitere und bittere Abrechnung mit ihrem bulgarischen Vater und dessen Heimat.

Doch in ihrer Kritik stellte Sibylle Lewitscharoff keine literarische Neuerscheinung vor, sondern den mit hundertjähriger Verspätung in deutscher Sprache erschienenen ersten Band des französischen Insektenforschers Jean-Henri Fabre (1823 – 1915), der den Titel „Entomologische Erinnerungen 1“ trägt. Eine vergleichbare Besprechung habe ich lange nicht gelesen, denn die Rezensentin jubelt, spricht von Genialität und meint, Fabre habe am Ende seines Lebens „auf eines der großartigsten Werke zurückblicken können, die je geschrieben wurden“.

Lassen Sie mich kurz aus der Besprechung zitieren: „Fabre schrieb so mitreißend, dass er auch heute nochmühelos den Leser in die heiße Kammer seiner abenteuerlichen Entdeckungen zieht – wir sind dabei, wenn der Forscher auf dem Bauch liegt, wenn er in der glühenden Sommerhitze stundenlang am selben Platz hockt, wenn er sinnreiche Vorrichtungen erfindet, um die Insekten genauer bei ihrer Brutpflege, beim Bevorraten ihrer Nistkammern beobachten zu können. Fabre irrt sich, er stöhnt, er stößt Jubelrufe aus, er wundert sich, wird gepackt von freudiger Erregung, ist bitter enttäuscht, und Herz und Hirn des Lesers machen jede dieser Bewegungen mit.“

Ich schwöre: Ich hätte mich nie von der Überschrift „Anbeter des Mistkäfers“ zur Lektüre dieses Artikels verleiten lassen, wenn mich nicht Rolf Escher vor vier Wochen auf Jean-Henri Fabre erstmals aufmerksam gemacht hätte. Er schrieb mir in Vorbereitung zu dieser Ausstellung:

„Eine Inspirationsquelle war dabei auch der große französische Insektenforscher Jean-Henri Fabre, dem ich vor vielen Jahren in dem schönen Insel-Band „Das offenbare Geheimnis“ erstmalig begegnet bin. In Deutschland eher unbekannt, ist Fabre mit seinen „Souvenirs entomologiques“ , die zwischen 1880 und 1907 in zehn Bänden erschienen, eine Größe. Seine Beobachtungen sind sehr lebendig geschildert. Hinzu kommt, dass seine Arbeitsstätte in der Provence bestens erhalten ist, so dass man vor Ort sich den Forscher gut vorstellen kann. Ich war vor ca. 20 Jahren schon mal dort und im Sommer des vergangenen Jahres noch einmal.“

Ein Ergebnis dieser Begegnung mit dem Wirkungsort Fabres ist die kleine Porträtstudie, die den Insektenforscher beim Studium eines Nachtpfauenauges zeigt. Einerseits kann uns Rolf Escher mit dem Porträt nahebringen, wie intensiv und lustvoll sich der Forscher in sein Studium versenkte. Auf der anderen Seite wird die Figur nur gerade so fassbar. Fabres Erscheinung ist mehr Vision als körperliche Präsenz.

Schwieriger Abflug Jean-Henri Fabre Selbstporträt

Ich glaube, das Wort „Inspirationsquelle“ ist die richtige Basis, wenn wir den Bogen von Jean-Henri Fabre zu Rolf Escher und seiner Ausstellung „Naturalien-Kabinett“ schlagen wollen, in der Zeichnungen, Aquarelle und Radierungen versammelt sind, die vornehmlich von Insekten bevölkert werden. Denn so viel ist klar geworden: Schon bei Jean-Henri Fabre geht es um mehr als um das reine Studium der Formen und naturwissenschaftliche Exaktheit. Es ist der spontane und kreative Umgang des Forschers mit seinen Insekten, der fasziniert, das künstlerische Potenzial, das darin steckt, und die Transformation des Natürlichen ins Literarische.

Und genau dort kann man ansetzen, wenn man einen Bogen zu Rolf Escher und seinen Arbeiten schlägt, in denen Käfer, Libellen, Krebse und Hummer den Ton angeben. Nehmen Sie die aquarellierte Federzeichnung „Stillleben mit Libelle“, die auf der Einladungskarte abgebildet ist. Es handelt sich um ein höchst komplexes Bild. Beginnen wir bei dem ersten Eindruck: Die zwischen Weiß, Gelb, Braun und Schwarz changierende Zeichnung wirkt zart und zerbrechlich. Die transparenten Flügel der Libelle scheinen den Ton anzugeben.

Aber die Libelle ist nicht das einzige Insekt in diesem Bild. Im Hintergrund sitzt ein Falter auf dem Holzkasten, und vorne aus der kleinen rechteckigen Öffnung des Kastens strecken sich Fühler heraus, die auf mindestens ein weiteres Insekt in dem Kasten hindeuten. Wie so oft bei Rolf Escher dringen in das Stillleben Elemente ein, die für Leben in dem Bild sorgen und die ins Erzählerische, auf verborgene Geschichten verweisen. Womit haben wir es hier überhaupt zu tun? Sehen wir die Objekte eines Insektenforschers vor uns, der in dem Kasten noch lebende Tiere verborgen hat und der die Libelle und den Falter untersucht, oder sind die beiden fliegenden Insekten aus Neugierde hinzugekommen?

Alles spricht für ein Stillleben, das in einem Labor zu entdecken ist. Der Kasten mit dem gefangenen Insekt und der zu erahnenden Beschriftung auf der Oberseite sprechen ebenso dafür wie vorne und an der linken Seite die Schreibfedern und das Instrument auf dem Kasten. Hier soll etwas eingeordnet und aufgezeichnet werden. Zugleich verweisen die Schreibfedern aber auch auf die Zeichnung selbst und auf die Ebene der Kunst. Schließlich haben wir eine Federzeichnung vor uns. Der vor uns liegende Federhalter verknüpft also beide Bereiche – den des Forschers und der aufzeichnenden Naturbeobachtung sowie den der künstlerischen Verarbeitung.

Wir sollten das Blatt aber nicht verlassen, bevor wir nicht auf ein wesentliches Kompositionselement geachtet haben: Alles soll in ein Ordnungssystem eingebunden werden. Dafür sprechen auch die klaren Linien, die das Bild prägen: Der massive Kasten, der das Perspektivische stark betont, steht leicht schräg in dem Bildraum. Seine Kanten geben gewissermaßen die Blickrichtung vor. Gleichwohl stehen diese Linien, die durch den Schatten, das Instrument auf dem Kasten und die beiden Schreibfedern gebildet werden, in Konkurrenz zu den Vorgaben des Kastens. Das heißt, dass das klare Liniensystem aufgebrochen wird und Bewegung in das Bild kommt.

Das eben vorgestellte Stillleben kann als ein Schlüssel zu Eschers Werk verstanden werden, das sich zwischen genauer Beobachtung der natürlichen und konstruierten Welt sowie der erzählerischen Ausformung bewegt. Rolf Escher nimmt in sich die Formen, die ihn faszinieren auf, um ihnen dann in seinen Bildern einen neuen Sinnzusammenhang zu geben. Seine Zeichnungen, Radierungen und Lithografien aus den ehrwürdigen Bibliotheken oder stolzen Städten wie Venedig oder seine Bilder von unscheinbaren Fluren und Winkeln lassen stets ihre Vorbilder erkennen. Aber der Zeichner haucht seinen Bildern Leben ein, schafft dort Offenheit, wo etwas zugebaut ist, oder bringt da Bewegung hinein, wo eigentlich alles erstarrt ist.

Die Arbeiten, die in dieser Ausstellung gezeigt werden, repräsentieren nur einen kleinen Ausschnitt aus Eschers Werk. Lange Zeit schien es so, als gehörten die Bilder mit den Käfern, Krebsen und Hummern zu einem Nebenweg, den Escher zu Anfang seiner grafischen und zeichnerischen Arbeit ausprobiert, dann aber aufgegeben hatte. Sie sehen einige wenige Blätter aus seiner Frühzeit, in der noch flächig angelegte Kompositionen das Werk prägten. Doch man darf nicht übersehen, dass Rolf Escher 1973 mit dem Zyklus zu Kafkas „Verwandlung“ und 1977 mit der Radierfolge „Versuche, einen Krebs zu begreifen“ bereits den Raum betreten hatte, in dem 20, 30 Jahre später seine Käferbilder entstehen sollten. Der Grafiker ließ zu, dass die Tiere in seinen Bildern Eigenleben entwickeln konnten. Zugleich wurde die Serie „Versuche, einen Krebs zu begreifen“ zu der bisher intensivsten Reflexion des Künstlers über seine Arbeit. Unter Einbeziehung seiner Hände in die Darstellung macht der Grafiker anschaulich, was es im Wortsinne heißt, einen Krebs zu begreifen, mit ihm um die richtige Position zu ringen und seine Formen auf die Bildebene zu übertragen. Der künstlerische Prozess wird zum Auftakt einer Geschichte.

In den 80er- und 90er-Jahren kehrten die Käfer verstärkt in Eschers Bilderwelt zurück, sie drängten sich ein, machten sich breit und schlüpften in fremde Rollen. Die Ausstellung lässt sichtbar werden, dass Rolf Escher parallel zwei Stränge verfolgte und diese immer wieder miteinander verknüpfte. Der eine Strang führte den Zeichner zur Konkretisierung der Form. Im Sinne von Jean-Henri Fabre setzte er alles daran, die Hirsch- und Nashornkäfer, die Pillendreher und Gottesanbeterinnen oder die Krebse und Hummer naturwissenschaftlich genau zu erfassen und in der Darstellung zu verlebendigen. Wenn er etwa in den Zeichnungen die Käfer bis zu den Fühlern, Härchen und Zähnen genauestens abbildet und schließlich noch mit dem Farbstift so vergegenwärtigt, dass die Tiere plastisch hervortreten, dann zieht er uns in das Naturstudium mit hinein. Verstärkt wird das in dem Blatt „Aus einer Käfersammlung“, auf dem wir neben den beiden farbig gefassten Tieren rechts oben skizzenhafte Ansätze zum Formen- und Bewegungsstudium sehen.

Der andere Strang führt ins Erzählerische. Den vorsichtigen Beginn dazu sehen wir in der Zeichnung „Nashornkäfer und Hirschkäfer“, die den Untertitel trägt „Gefährliche Begegnung“. Zuerst fesselt an dem Blatt die lebhafte Darstellung der Tiere und ihre so unterschiedliche Behandlung durch den Zeichner. Denn während der Nashornkäfer plastisch herausgearbeitet ist, verliert sich die Form des Hirschkäfers – bei aller Genauigkeit – zum Rand hin ins Skizzenhafte. Die beiden Käfer hat der Zeichner nun so dargestellt, dass es scheint, als würden sie sich aufeinander zu bewegen und einen Kampf beginnen. Das Stillleben wandelt sich zur Bewegungsstudie und zu einem kleinen Abenteuer.

Immer wieder sind im Werk von Rolf Escher Zeichnungen und Grafiken zu entdecken, in denen die dargestellten Tiere sich der Beobachtung entziehen, das Stillleben sprengen und zu Akteuren werden. In der Radierung „Büchernarr“ wühlt sich ein Käfer in einer Bibliothek durch einen Wust von Blättern und Zeitungen. In der Radierung „Ledersessel und Kissen“ hat sich ein Käfer in dem Kissen verborgen. Und bedrohlich zeigt der alte Wecker dem heraufkrabbelnden Käfer die Stunde an, um ihm klar zu machen, dass er ein „Verspäteter Besucher“ sei. In der Radierung „Mantis religiosa“ schließlich erhebt sich die Gottesanbeterin auf einem Schränkchen zum Denkmal. In diesem Druck nimmt Rolf Escher ein Bildmotiv auf, dass er seit seiner 1970 geschaffenen Zeichnung „Hummer 1“ verschiedentlich bearbeitet hat.

Vor allem zusammen mit den in den 90er-Jahren entstandenen Bildern aus den großen Bibliotheken, von denen auch einige wenige Exemplare zu sehen sind, gestaltete Escher zahlreiche Zeichnungen und Radierungen, in denen Käfer, Hummer und Krebse in die heilige Welt der Bücher eindringen, sich dort häuslich niederlassen und sogar in die Rolle der Bibliothekare schlüpfen. Das sind Bilder, in denen die magisch beschworene Wirklichkeit ins Surreale umkippt und in denen sich ein stiller Humor Platz schafft. Ich denke etwa an die Radierung „Abflug“, in der man einen Käfer sieht, der offenbar mit Mühe eine hohe Stuhllehne erklommen hat. Hinter sich lässt er ein kleines Bücherchaos zurück – und den Flug, zu dem er vielleicht starten will, traut man ihm nicht zu.

Das Spiel mit den Käfern, die sich die Welt erobern, treibt Rolf Escher so weit, dass er wiederholt die Bibliothekare in Käfer verwandelt und sie in bedrohlicher Größe eine Treppe herunterkrabbeln lässt. Doch der Auszug der Bibliothekare bedeutet noch nicht das Ende der Bücherwelt.

Der Zeichner und Grafiker sieht sich unter die Herrschaft der Käfer, Krebse und Hummern gestellt. Anschaulich macht er das in seinem kleinen Selbstporträt, in dessen Zentrum ein runder Spiegel steht, der das halbe Gesicht des Künstlers gerade noch so erfasst. Er denkt über sich und seine zeichnerische Arbeit nach – den Kopf auf die Hand gestützt und die Zeichenfeder zwischen den Fingern. Weit größer als das kleine Halbporträt ist der links dahinter stehende Kasten, in dem sich ein Hummer befindet, der allerdings zur Hälfte von einem Tuch verborgen ist. Rolf Escher bekennt sich in dieser Radierung zu seiner Leidenschaft für das Getier. Und zugleich ist dieses Blatt ein Musterbeispiel für den raffinierten Aufbau der Komposition. Es wird fast mehr verborgen oder dem Blick entzogen als ausgeführt. Und die rechte Hälfte des Bildes ist nahezu leer. In diese Leere ragen nur zwei zarte Linien – ein Fühler und die Zeichenfeder. Damit wird der Spannungsbogen zwischen Natur und Kunst angedeutet.

17. 4. 2010

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