Das Fest beginnt

Wunder dauern etwas länger, heißt es. In Kassel allerdings können sich Wunder gelegentlich auch schneller ereignen. Manchmal braucht man höchstens fünf Jahre zu warten.

Alle fünf Jahre findet die documenta statt und alle fünf Jahre ist der Name dieser Kunstschau so etwas wie ein Zauberwort. Wird es in die Diskussion geworfen und als Argumentationshilfe herangezogen, dann wird plötzlich möglich, was vorher schwierig oder sogar undenkbar schien. Die neue docurnenta-Halle, die Fertigstellung von Tiefgarage und Friedrichsplatz und schließlich die Vollendung des Königsplatzes sind alles Projekte, die nur mit Hilfe dieses Zauberwortes so schnell durchgezogen werden konnten.

Aber auch sonst bewegt die documenta in der Stadt mittlerweile viel. Das Kunstereignis ist längst nicht mehr nur eine Ausstellung. Es ist zum Kunstfest, zum Kulturfestival geworden. Die Klagen auswärtiger Besucher von einst, an den Abenden im documenta-Sommer sei nichts los, ziehen nicht mehr. Wer über den Tellerrand seiner Kunstsparte hinaussieht, der wird Mühe haben, für sich aus der Fülle des Angebots das richtige herauszusuchen. Nun muß sich umgekehrt zeigen, ob für all die Konzerte, Filme, Tanz- und Kleinkunstveranstaltungen auch genügend Publikum mobilisiert werden kann.

Jetzt, da die Ausstellung steht, kann gefeiert werden – erleichtert darüber, daß die lange und mit vielen Hindernissen versehene Vorbereitungsphase erfolgreich überstanden ist. Für 100 Tage ist die Stadt internationale Kunstdrehscheibe. Kassel im documenta-Fieber: Wer gestern über den Friedrichsplatz ging, der glaubte sich wirklich auf eine Piazza versetzt, in eine Arena der Eitelkeiten und Schönheiten.

Aber so heiter das Treiben unter dem Himmelsstürmer wirkt: Man darf nicht vergessen, daß Borofskys vorwärtsdrängende Figur zwischen Aufstieg und Absturz schwebt. Und so ist auch in der Realität die Festtagsfreude nicht ungetrübt. Die Brandstiftung an dem Atlantis-Pavillon auf dem Friedrichsplatz war ein deutlicher Hinweis dafür, daß unter der Oberfläche Konflikte, Widerstände und Aggressionen rumoren.

Es ist eben keineswegs so, daß die documenta von allen gefeiert wird. Der zähe Widerstand der Traditionsverbände gegen die vorübergehende künstlerische Nutzung des Ehrenmals ist ein weiteres Signal dafür. Der Versuch, im Eilverfahren die Kunstaktion zu verhindern, ist zwar gescheitert. Doch wenn eine respektvolle Umwidmung die Traditionsverbände stärker auf die Palme bringt als die alltägliche Verschmutzung, dann sieht man, wie tief bei einigen die Vorbehalte gegenüber der documenta und der zeitgenössischen Kunst sitzen.

HNA 13. 6. 1992

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