Morgen öffnet die documenta 9. Gestern war die Presse zur Vorbesichtigung eingeladen. Hier die ersten Eindrücke.
Oben im Museum Fridericianum: Die Besucher müssen sich zwischen von der Decke hängenden schwarzen Sandsäcken hindurchzwängen, die eine hermetische Wand bilden. Indem man dem einen ausweicht, muß man den anderen beiseite schieben. Das Spiel mit dem Körper und der Gegenkraft, zu der hier der in München lebende Künstler Flatz einlädt, kann zugleich Aggressionen hervorrufen und freisetzen. Der Gewalt kann keiner ausweichen.
Gleich nebenan ein anscheinend unendlich langer, total abgedunkelter Gang. Der weiche Bodenbelag nimmt einem in der Dunkelheit die Sicherheit, die man sonst beim Laufen verspürt. Hat man sich an die Dunkelheit gewöhnt, erkennt man rechts und links an den Wänden lebensgroße Fotoporträts. Nimmt man eine dieser Projektionen ins Visier, kann es passieren, daß die Person auf dem Absatz kehrtmacht und davon zu gehen scheint. Eine ebenso irritierende wie poetische Arbeit.
Wie sich im documenta-Logo stets der aggressive schwarze und der stille weiße Schwan gegenüberstehen, so lebt die gesamte Ausstellung vom Wechsel der Stimmungen, Gefühle und Haltungen. Immer wieder wird der Besucher emotional angesprochen und herausgefordert. Lediglich in den Aue-Pavillons, in denen die Malerei dominiert, gibt es ein paar Räume, die rein ästhetisch zu sein scheinen, in denen es in erster Linie um die Kunst an sich geht. Ansonsten überwiegen die Werke (und Räume), die bei aller ästhetischen Kraft über sich hinausweisen und Empfindungen auslösen, die für den Betrachter etwas Existentielles haben.
Jan Hoet und sein Team benutzen nicht die documenta 9, um bestimmte Entwicklungslinien der Kunst zu behaupten, sondern sie nutzen die Ausstellung ausschließlich, um Beispiele für die Komplexität, Ausdrucksstärke und Kraft heutiger Kunst zu präsentieren. Deshalb wirken auch alle (vergeblichen) Nachfragen nach dem Konzept und möglichen Theorien abwegig: Die Besucher erleben, was die Kunst möglich und auch unmöglich macht und wie sehr sie mit ihren gegenläufigen Bewegungen den Gesetzmäßigkeiten des Lebens entspricht.
Die documenta-Leitung hat keine Wegweiser zum Erobern der Ausstellung aufgestellt. Seinen Weg muß jeder Besucher selbst finden. Und wer nicht bloß abhaken, sondern die Arbeiten und Räume auf sich wirken lassen will, wird sich kaum an einem Tag alle Ausstellungsorte und Skulpturen im Freien erlaufen können.
Was Hoet ebenfalls weitgehend eingelöst hat, ist sein Versprechen, die verschiedenen Orte gleichgewichtig zu behandeln und ihnen wechselnde Klimata zuzuweisen. Aufgrund seiner Größe bleibt natürlich das Museum Fridericianum das Zentrum. Hier wird man in der Eingangshalle gleich von einer massiven Inszenierung empfangen: Peter Kogler hat Wände und Decken in ein schwarz- weißes Feld mit einer Invasion riesiger Ameisen verwandelt. Darin steht ein begehbarer Kubus mit einer Video-Installation von Bruce Nauman. In vielfachen Projektionen sieht man den immer gleichen Männerkopf, der – sich mal rechts, mal links drehend – einen Singsang beschwörender und klagender Laute vorträgt.
Spricht man davon, muß man auch an das Gegenbild erinnern, das Marisa Merz gleich dahinter geschaffen hat – ein kleiner, still vor sich hinplätschernder Brunnen aus einem speziellen Wachs. So ist die Welt – voller Widersprüche und Gegensätze. Die Kunst, so lautet die Botschaft der documenta, findet immer neue Bilder dafür. Wenn man diesen Gedanken aufnimmt und für richtig hält, dann kann man diese documenta 9 nicht nur als ein Abenteuer empfinden, sondern sie auch als gelungen ansehen.
Die documenta-Halle und die Aue-Pavillons erweitern das Aktionsfeld der documenta auf eine erfreuliche Weise. Der große Saal der documenta-Halle ist, vor allem wenn man von oben (von der Treppe) hineinblickt, mit der wandfüllenden Arbeit von Mario Merz, dem Farbraum von Matt Mullican und der utopisch-witzigen Fliegentötungsmaschine von Ulf Rollof eine Augenweide. Genau so schön sind aber mitunter auch die winzigen Räume und Kabinette – wie etwa der Zugang zu den Toiletten, in denen Richard Artschwager einen seiner Beiträge hineinprojizierte. Lediglich der Malerei-Raum in der documenta-Halle wirkt wie eine normale Ausstellung.
Natürlich funktioniert der Dialog der Arbeiten nicht überall. So überzeugend die einzelnen Beiträge auf dem Friedrichsplatz sind, so sehr gerät er durch die Fülle der Ideen in Einzelbereichen auch aus den Fugen. Aber es gefällt auch wieder, wie einzelne Künstler Spuren quer durch die Ausstellung legen durften. Dazu gehört etwa der Künstlerpoet Jan Fabre, von dem hier und da an der Wand eine Hand auftaucht, die eine blaue Glasform hält.
Überraschungen birgt die Neue Galerie. Die Auseinandersetzungen der Künstler mit dem Museum und seiner Sammlung werden provozieren und Aggressionen hervorrufen. Dies muß vorausgeschickt werden, wenn hier behauptet wird, daß unglaublich faszinierende Räume entstanden sind. Die vortrefflichste Inszenierung (vielleicht der documenta 9 insgesamt) ist Joseph Kosuth mit seinen weißen und schwarzen Galeriefluren gelungen: Bilder und Skulpturen sind mit weißen bzw. schwarzen Tüchern verhängt, auf denen in schwarzer bzw. weißer Schrift literarische Zitate aufgetragen sind. Aber auch Haim Steinbachs gewaltiges hölzernes Tor, das den Zugang zum Hauptraum der Gegenwartskunst im 1. Stock scheinbar versperrt, ist ebenso ein Ausdruck von Gewalt wie von Witz und Poesie.
Wen dies alles nicht rührt, der wird spätestens von Zoe Leonards Intimfotos, die zwischen braven Gemälden hängen, aufgeschreckt: Die Künstlerin will mit den Vagina-Bildern die männlich-voyeuristische Sichtweise traditioneller Kunst vorführen. Auf voyeuristische Blicke scheint auch Ilya Kabakovs Toilettenhäuschen im Innenhof des Fridericianums zu setzen. Doch wer den Fuß hineinsetzt, begegnet nur der liebenswürdig-normalen Welt der einfachen Russen. Zur Poesie gehört der Witz.
HNA 12. 6. 1992