Konzentration und Zuspitzung

Herr Rattemeyer, wie lange werden Sie noch das Museum Wiesbaden leiten?

Rattemeyer: Es ist verabredet, dass ich Ende September 2010 ausscheide – einige Monate vor meinem 68. Lebensjahr.

Wie lange waren Sie dann hier?

Rattemeyer: Begonnen habe ich am 1. September 1987, das sind dann 23 Jahre, eine urlange Zeit, womit ich nie gerechnet habe.

Was war denn der Höhepunkt Ihrer Arbeit in Wiesbaden?

Rattemeyer: Das sind sicherlich mehrere. Auf der einen Seite haben wir im Rahmen der baulichen Sanierungen wunderbare Räume entwickeln können – sowohl aus den alten Kunstsammlungsräumen als auch in dem neu geschaffenen Mitteltrakt. Dieser bauliche Höhepunkt, der uns viel Anerkennung eingebracht hat, war, als ich hier anfing, selbst im Ansatz nicht absehbar. Es konnten Räume entstehen, die sich durch Umbauten, Vergrößerungen und Neuzuschnitte den ursprünglich angedachten, aber dann baulich stark verwässerten Ideen des Baumeisters Fischer annäherten – nämlich ein Museum mit einem Außenrundgang und Innenrundgang und mit guten Proportionen zu errichten.

Und inhaltlich?

Rattemeyer: Im konzeptionellen Bereich war ein Höhepunkt der Aufbau des Sammlungsschwerpunktes der Kunst der 1960er Jahre und hier vor allem der Aufbau der amerikanischen Kunst – so wie es nur in wenigen deutschen Museen möglich war. Das hat uns in die Lage versetzt, das Haus international zu öffnen. Der Lohn war beispielsweise die Auszeichnung der amerikanischen AICA für die Eva Hesse-Retrospektive als beste monographische Ausstellung im Jahre 2002. Hieraus ergab sich die Möglichkeit, mit der Yale-Universität das Werkverzeichnis der Gemälde und Skulpturen von Eva Hesse herauszubringen, wofür wir 2007 vom amerikanischen Verlegerverband die Auszeichnung „Bestes Buch Amerikas im Sektor Fine Art“ erhielten. Höhepunkte waren auch die Ausstellungen „Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts“, die Retrospektiven mit Agnes Martin, Donald Judd, Robert Mangold, Brice Marden – immer verbunden mit dem Erwerb von Arbeiten.

Wenn ich an das alte Museum Wiesbaden denke, dann habe ich ein unübersichtliches und verstaubtes Haus vor Augen. Nun haben Sie erreicht, dass die Sammlung der Nassauischen Altertümer aus dem Museum ausgelagert wird, um die Basis für eine Neustrukturierung zu schaffen. Hat es gegen diese Neukonzeption eigentlich viele Widerstände gegeben?

Rattemeyer: Es gab heftige Widerstände. Seit Ende der 1969er Jahre hatte sich das Wiesbadener Museum aus dem Kreis der Museen in Deutschland, über die man sprach, verabschiedet. Das Haus war Ende der 1980er Jahre zu einer muffigen Angelegenheit verkommen – baulich und konzeptionell. Insofern war mir etwas blümerant, als ich in Wiesbaden anfing. Erst die alten Baupläne von Theodor Fischer, die der Architekt und ich haben studieren können, zeigten Lösungen, wie die bauliche Muffigkeit beseitigt und der Zuschnitt der Räume optimiert werden kann.

Aber es war nicht nur der Zuschnitt der Räume …

Rattemeyer: Richtig. Das Problem war, dass in einem Gebäude seit 1915/1920 drei Museen untergebracht waren, die sich bis 1972 mit getrennten Direktionen seit der Gründung der drei Museen (1820/1825) konzeptionell höchst unterschiedlich entwickelt hatten – ohne Bezüge zueinander. Das waren die Naturkundesammlung, die Sammlung Nassauische Altertümer und die Kunstsammlung. Um den drei Abteilungen eine zukunftsweisende Perspektive geben zu können, war die konzeptionelle Neuausrichtung mit deutlicher Profilschärfung ebenso unabdingbar wie die Gewinnung von zusätzlichen 4.000 bis 5.000 Quadratmetern an Ausstellungs- und Betriebsflächen, die am alten Platz nicht zu schaffen gewesen wären. Von daher schlug ich den Neuaufbau der Sammlung Nassauische Altertümer am anderen Ort vor. Dies löste einen ungeheuren Streit aus, der mich um ein Haar den Kopf gekostet hätte, weil aus lokaler Sicht die regionale Kulturgeschichte und Archäologie (der SNA) als eigentlicher Kernbestand des Museums reklamiert wurde. Deshalb gleicht es einem Wunder, dass am Ende dieses hart geführten Streits – auch mit Hilfe vieler Bürger und politisch Verantwortlicher in Stadt und Land – vor fünf, sechs Jahren die Entscheidung zum Bau eines Stadtmuseums fiel – in einer Dimension, die wir für die SNA im alten Haus nie hätten bieten können.

Nun haben Sie in Wiesbaden die Neuordnung des Museums in Angriff genommen, wobei Sie mit der Kunstsammlung begonnen haben. Dabei hatten Sie das große Glück, als Morgengabe zu Ihrem Amtsantritt die Sammlung Hanna Bekker vom Rath zu erhalten, die ja die Voraussetzung für eine Neuordnung schuf. Das war ein spektakulärer Beginn, doch es folgten mehrere andere spektakuläre Zugewinne, so dass man sich fragt, über wie viele Hunderttausende an Ankaufsmitteln Sie eigentlich verfügen können.

Rattemeyer: Ja, die Sammlung Hanna Bekker vom Rath war mit ihren Jawlenskys und Expressionisten eine vorzügliche Gabe. Doch sie enthielt auch die Verpflichtung, sich mit der Geschichte des Hauses und seiner Sammlung zu beschäftigen. Es wurde sehr schnell klar, dass die Sammlungsgeschichte drei wunderbare Anknüpfungspunkte bereit hielt: Jawlensky und Umfeld, konstruktive Positionen, die Dank des Nassauischen Kunstvereins 1927 zur Gründung des ‚Ring Neue Werbegestalter’ führten, und die großartige Leistung von Clemens Weiler, der nach dem Krieg die Jawlenksky-Sammlung wieder neu begründete und in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst in den 1960er Jahren u.a. die erste Museumsausstellung für Gerhard Richter im eigenen Haus einrichtete. Die Sammlung Bekker vom Rath stand also am Anfang (1988) und knapp zehn Jahre später (1996) folgte die wunderbare Nachlass-Schenkung aus der Schweiz mit rund 60 000 Zeichnungen, Skizzen, archivalischen Unterlagen, Gästebüchern und Dokumenten von Vordemberge-Gildewart und Künstlerfreunden. Dadurch gewannen wir ein riesiges Forschungs- und Ausstellungspotential von einem Künstler und Gestalter, der den eben genannten „Ring Neue Werbegestalter“ mitbegründet hatte. Und über Arbeiten von Richter u.a. in der Sammlung fanden wir den Zugang zu den wegweisenden Künstlern der 1960er Jahre.

Sie hatten also keine außergewöhnlichen Ankaufsmittel?

Rattemeyer: Nein. Wir standen und stehen strukturell nicht besser als die Landesmuseen in Darmstadt oder Kassel da. Ich habe nur rechtzeitig Verbindungen geknüpft. Vor allem habe ich durch die Vermittlung von Harry Szeemann eine Person als Ratgeber gewonnen, die damals in Europa die versierteste und unabhängigste Position hatte, nämlich Franz Meyer, der damals Museumsdirektor in Basel war. Mit ihm und Harald Szeemann sowie Pontus Hulten haben wir uns zusammengesetzt. Diese rieten mir dann: konzentriere Dich auf wenige Dinge! Daraus folgte, dass ich gemäß der angestrebten Neuausrichtung mit Künstlern monographische Ausstellungen realisierte und daraus Werke für die Sammlung sicherte (durch Erwerbungen und Schenkungen). Immer mit der Zielsetzung, keine Bebilderung der Kunstgeschichte anzustreben, sondern vielmehr Künstlerräume aufzubauen, in denen wichtige Werkgruppen zusammenzuführen oder Werkentwicklungen zu dokumentieren waren. Das Ziel war also Konzentration und Zuspitzung. Und mit diesem Profil des Museums konnten wir den einen oder anderen privaten Unterstützer gewinnen und auch Kunststiftungen ansprechen. Und je anerkannter diese Arbeit wurde, desto mehr waren Künstler und Sammler bereit, uns auch zu unterstützen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Rattemeyer: Als wir damals das Projekt mit Donald Judd vorbereiteten, war mir klar, dass wir versuchen mussten, zwei zentrale Arbeiten, die nie zuvor in Europa gezeigt worden waren – „Seven Cubes“ und „Slanting Piece“ (beide 1972 bei Castelli in New York vorgestellt) – in die Wiesbadener Ausstellung einzubeziehen, was auch gelang. Das brachte uns nicht nur Aufmerksamkeit ein, sondern war auch eine gute Basis für unsere Bemühungen, die „Seven Cubes“ für die Sammlung zu sichern und mit Hilfe von Kunststiftungen in Raten zu erwerben. Andere Projekte wurden erst möglich durch den Jawlensky-Preis der Stadt Wiesbaden und den Ritschl-Preis. Zudem wurde unsere Arbeit im weiteren Verlauf durch die Stankowski-Stiftung und die Schweizer Stiftung Vordemberge-Gildewart unterstützt.

Nun sind auf diese Weise ein paar ausgezeichnete Künstlerräume entstanden. Ich denke an die Räume von Jochen Gerz, Ilya Kabakov, das Ensemble von Donald Judd und natürlich Rebecca Horn. Sind die auch durch die Zusammenarbeit mit den Künstlern entstanden?

Rattemeyer: Ja, natürlich. Die „Transsib“-Arbeit, mit der Jochen Gerz auf der sechsten documenta (1977) vertreten war, war die erste, die ich für Wiesbaden angekauft habe. Das hatte mit Kassel und der documenta zu tun, denn Gerz hatte während dieser documenta bei uns zu Hause gewohnt. Gerz war für mich eine der Schlüsselfiguren der Kunst der 1960er-Jahre. Insofern haben wir immer wieder kooperiert: in Ausstellungen, bei der Erarbeitung von Werkverzeichnissen und bei der Auswahl von Arbeiten für die Museumssammlung – letzteres zu sehr moderaten Preisen oder im Zuge von Schenkungen. Insgesamt umfasst die Wiesbadener Gerz-Sammlung knapp 50 Arbeiten: Einzelarbeiten, Werkgruppen und raumgreifende Installationen, vor allem konzentriert auf die 1970er Jahre.

Welches ist Ihr Lieblingsraum?

Rattemeyer: Da bin ich sehr gespalten. Ein Lieblingsraum ist sicher der mit den Arbeiten von Eva Hesse, weil sie für mich die Schlüsselfigur der 1960er Jahre ist und weil ich anfangs nie zu hoffen gewagt hätte, ihr Werk hier einmal so repräsentativ zeigen und zentrale Arbeiten für das Museum sichern zu können. Ganz wichtig ist für mich auch der Donald-Judd-Raum, weil es kaum etwas Vergleichbares in Deutschland gibt. Und dann gehören natürlich auch die Räume von Jochen Gerz, Rebecca Horn oder Ilya Kabakov dazu. Es sind jedoch nicht nur die einzelnen Räume, die das Profil der Sammlung ausmachen, sondern die Rückbezüge zu den Wurzeln der Wiesbadener Museumssammlung.

Wenn ich mir die Museumssammlung vor Augen führe, dann kommen mir die Werke vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 20er Jahre in den Sinn und dann 40 Jahre weiter die Kunst, die in den 60er Jahren und folgenden entstand. Schaue ich nochmals 40 Jahre weiter, dann bin ich im Anfang des 21. Jahrhunderts. Kommt diese ganz aktuelle Phase auch im Museum vor?

Rattemeyer: Die kommt in der Sammlung auch vor, wenn auch im Augenblick nicht in der Präsentation. Es geht ja um die Frage: Wo knüpfen wir an, wie entwickeln wir uns weiter? Klar ist: Jawlensky und der Expressionismus sind abgegrast, der Ankauf von weiteren Werken dazu ist für Wiesbaden nicht finanzierbar. Ein Zugewinn kann mithin nur durch Schenkungen erfolgen – was in diesen Tagen auch geschehen ist. Mit Blick auf die in der Sammlung befindlichen Künstler der 1960er Jahre sind es nicht unbedingt deren Töchter und Söhne, die die Fragestellungen der Elterngeneration aufnehmen, sondern eher die Enkel. In dieser Hinsicht gibt es zwei, drei sehr interessante Positionen. Tina Schulz zum Beispiel, die im Rahmen der Ausstellung mit Stipendiaten der Stiftung Vordemberge-Gildewart eine raumbezogene Arbeit präsentiert hat, die sich mit zentralen Fragen der Kunst der 1960er Jahre auseinandersetzt. Diese Arbeit haben wir erworben.

Wenn Sie Ende des Jahres ausscheiden, dann ist der Umbau noch nicht beendet.

Rattemeyer: Das ist richtig.

Welche Abteilungen werden noch von dem Umbau profitieren?

Rattemeyer: Das ist zum einen der Flügel der Naturkunde. Dort wird auf einer Fläche von 2600 Quadratmetern die Sammlung neu ausgerichtet Die Konzeption haben wir in Rückkoppelung mit Kollegen aus dem Frankfurt Senckenberg-Museum entwickelt. Wir wollten nicht wiederholen, was in den Naturkundesammlungen in Frankfurt, Darmstadt und Mainz geboten wird. Wir werden die Sammlung in thematische Räume gliedern (Farbe, Form, Bewegung, Raum, Zeit), ohne die Substanz der naturkundlichen Sammlungen zu negieren. Für die Neueinrichtung haben wir Künstler zur Mitarbeit gewinnen können. Beispielsweise wird Christiane Möbus eine begehbare Vogel-Voliere entwickeln, in der die historischen Präparate nach der Goetheschen Farblehre präsentiert werden sollen. So entsteht eine Skulptur, die Bezüge zur Naturkunde, Kunst und Farbtheorie schlägt und Anleihen bei den historischen Schauvitrinen nimmt.

Wo stehen außerdem Änderungen an?

Rattemeyer: Im anderen Flügel, der vom Umbau profitieren soll, werden die Sammlungskomplexe vom Mittelalter bis zum Beginn der 20. Jahrhunderts Einzug halten. Das ist keine sehr spektakuläre Sammlung, die zudem auch noch durch Restitutionsforderungen geschmälert werden kann. Da wir weder mit Darmstadt noch mit dem Städel konkurrieren können, haben wir uns zu einer thematischen Gliederung entschieden, die um Arbeiten von Künstlern der Gegenwart ergänzt werden soll. Die mittelalterliche, etwa 20 Werke umfassende Skulpturensammlung wird in den Dialog mit einer Skulptur von dem japanischen Künstler Katsura Funakoshi gestellt. Kazuo Katase hat eine solche Präsentationsform im Zusammenhang mit seiner letztjährigen Wiesbadener Ausstellung bereits erarbeitet, indem er Werke aus der Niederländer-Sammlung des Hauses in sein Konzept integrierte.

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