(White Reformation Co-Op) Mens sana in corpore sano
Kunsthalle Fridericianum 13. 3. 13. 6. 2010
Zum dritten Mal hat Rein Wolfs die Kunsthalle Fridericianum in Kassel einem Künstler für eine Totalinszenierung überlassen, um die Auseinandersetzung mit dem Gebäude zu forcieren, das 1779 als das erste für die Öffentlichkeit geschaffene Museum auf dem europäischen Kontinent eröffnet wurde und das seit 1955 weltweit als Stammhaus der documenta bekannt ist. Christoph Büchel führte 2008 das nur äußerlich klassizistische Gebäude als einen Ort vor, an dem die Kunst ihren Platz verloren hat und an dem nun alles denkbar ist vom Billig-Supermarkt über ein Stasi-Depot bis hin zum Sonnenstudio (Deutsche Grammatik, Kunstforum 194). Ein Jahr später konnte Mechac Gaba erstmals sein Museum of Contemporary African Art (Kunstforum 195) komplett vorstellen und dabei deutlich machen, dass zum Wesen des Museums vornehmlich die Verwandlung des Geldes gehöre. Nun hat Wolfs den in Berlin lebenden und lehrenden Künstler Thomas Zipp (Jahrgang 1966) eingeladen, damit er auf eineinhalb Etagen die Kunstanstalt Fridericianum in eine psychiatrische Anstalt verwandeln konnte. Statt des Namens Museum Fridericianum ist jetzt am Portikus-Giebel der Moralspruch des aufgeklärten Bürgertums zu lesen: Mens sana in corpore sano (Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper).
Wir begreifen die von Zipp geschaffenen Anstaltsflure mit den teils verschlossenen Türen sowie den Zugängen zu den Ess- und Schlafsälen und gemeinschaftlichen Toiletten und Waschräumen als eine bedrückende Vergegenwärtigung eines Lebensbereiches, den wir gemeinhin ausblenden. Zwar erleben die Besucher diese geschlossene Anstalt als eine dunkle Zone der Gesellschaft, doch gehört zu ihrem Wesen, dass es keine Mauern gibt, hinter denen Individualität und Intimität bewahrt und geschützt werden können. Zipp lässt die Besucher wie über Laufstege gehen, an denen herunterhängende Zeichnungen und Gemälde sowie die Türen die Funktion von begrenzenden Wänden übernehmen. Durch punktgenaue Neonlampen werden die Bilder und offenen Räume aus dem Dunkel geholt. Umso stärker leuchten die in Cremeweiß gehaltenen Anstaltsmöbel und lassen schmerzhaften Erinnerungen an Kliniken und Irrenhäuser der jüngeren Vergangenheit hochkommen. Und wenn man in der kleinen Bibliothek die Bücher über Rausch, Gewalt, Strafe und Sex sieht, dann ist schnell der Bezug zu der aktuellen Diskussion über Kindesmissbrauch in geschlossenen Systemen (Internaten) hergestellt.
Aber Zipp will nicht die Kunst nutzen, um über den Umgang mit geistig Kranken nachzudenken oder gar die Psychiatrie und ihre klinischen Einrichtungen anzuklagen. Nein, für ihn ist diese Anstalt nur das Modell für die Art und Weise, wie wir mit Überlieferungen, Erfahrungen und Werten beziehungsweise mit Menschen und Zeugnissen umgehen. Denn aus demselben Geist, aus dem Bewahr- und Erziehungsanstalten eingerichtet wurden, entstanden zum Zwecke der Vergnügung und Belehrung museale Sammlungen und Anstalten, in denen dieses Gut aufgehoben und vorgeführt wurde und wird. Das historische Museum Fridericianum ist demnach auch als eine Bewahranstalt für Kunst und Kultur anzusehen, in der das Gute und Vorbildhafte ebenso präsentiert wurde wie das Merkwürdige. Im Museum wurde die Spreu vom Weizen getrennt. Zur Perversion führte diese Methode des Aussonderns unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, die einerseits eine Volkshygiene propagierten, die die Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen zum Ziel hatte und die andererseits den Begriff der Krankheit auf die Kunst (entartet) übertrugen.
Veit Loers, der von 1987 bis 1995 die Kunsthalle Fridericianum leitete, weist in seinem Katalogbeitrag noch auf einen anderen Zusammenhang hin nämlich darauf, dass es eine große Nähe von Kreativität, Genialität und Wahnsinn gibt und dass unser Denken durch die Auseinandersetzung mit der Kunst der Geisteskranken nachhaltig verändert wurde. In mehreren Ausstellungen, zuletzt in seiner Herforder Abschiedsschau Loss of Controll (Kunstforum 199), ist Jan Hoet jener unauflöslichen Verbindung von Kreativität und Verrücktheit nachgegangen. Zipp nun verquickt die verschiedenen Aspekte und verdeutlicht damit, wie er die Kasseler Installation aus seinem Werk heraus entwickelt hat. Die vermeintliche psychiatrische Anstalt, durch die man läuft, ist eben auch eine Kunstausstellung, in der massive Steinbüsten auf Podesten stehen und in der an den unsichtbaren Wänden Zeichnungen und Gemälde hängen. Bei den Zeichnungen kann man sich vorstellen, dass sie in dem Übungsraum mit den Pulten der Kunsttherapie entstanden sind. Die befremdlich düsteren Gemälde mit ihren zum Teil surrealistischen Motiven passen auch in den Zusammenhang, weisen zugleich aber auch darüber hinaus und stellen Thomas Zipp als einen Maler vor, der aus dem Dunkel des Unbewussten seine Motive holt. Wie wichtig ihm der malerische Beitrag ist, wird in dem zentralen Raum im ersten Stock offenbar, in dem Zipps Riesengemälde Jesus Einzug in Brüssel (2004) hängt, das sich an ein Motiv von James Ensor anlehnt, der einer der wichtigsten Künstler im Grenzbereich von Genie und Wahnsinn ist. Auf der anderen Seite kommentiert Zipp das rationalistische Reinheitsgebot der Kunst, indem er den white cube in einen weißen schallisolierten Raum, in eine sprichwörtliche Gummizelle verwandelt.
Die komplexe Ausstellung berührt zahllose Bereiche der Gesellschaft und der Kunst. Sie stellt vor allem auf der Basis von Zipps White Dada-Manifests von 2002 Fragen an die Besucher: Welche Folgen haben das Wirken von Luther, Freud, Darwin und anderen auf unseren Umgang mit dem Abnormen, dem Rauschhaften und Irrationalen sowie unser Verhältnis zum Körper? Wie steht es um den Menschen und die Kunst, wenn, wie auf einer Glocke zu lesen ist, der Geist ohne Körper propagiert wird? Dass die so sauber und ordentlich wirkende Anstalt aber auch in sich ihre Brüche hat, bezeugen die Zigarettenkippen, die überall liegen, die Uhren, die ihr Gleichmaß verloren haben, und die zerwühlten Betten.
Eine eindringliche Inszenierung, die die Regeln des Lebens und der Kunst in Frage stellt. Die Installation hätte aber noch mehr an Eindringlichkeit gewonnen, wenn sie stärker verdichtet worden wäre.
Kunstforum 202