Eine Oase, die keine ist

Mitten in der documenta 9 lockt eine Bar zum Verweilen ein. Wer sich auf sie einläßt, wird nachdenklich gestimmt.

Ein Rundgang durch das Museum Fridericianum: Hier ist radikale Malerei zu studieren, dort eine bedrückende Installation aus Folterkammern und Schlachttischen. Dann aber plötzlich steht man mitten in einer Bar – mit einer Theke, an der man etwas trinken kann, mit kleinen Tischen und Stühlen, mit künstlichen Palmen und Pianomusik, die aus einem Klavier ertönt, dessen Tasten von Geisterhand niedergedrückt werden.

„Transit Bar“ — ein Ort zum Verweilen, eine Oase. Man kann sich setzen und lesen und den Ausstellungsbesuchern beim Rundgang zuschauen, für die man nun selbst zum Teil der Kunstschau wird. Hier könnte man leicht das Beklemmende anderer Werke und Räume verdrängen. Aber wenn man auf die fünf Bildschirme blickt und sich auf die Geschichten einläßt, die die verschiedenen Personen mit ihren knappen Aussagen umreißen, dann verwandelt sich die Szenerie. Auf einmal spürt man die Einsamkeit der Menschen. Sie kramen in ihren Erinnerungen, erzählen viel von der Vergangenheit und reden so sehr neben- und durcheinander, daß sie aus dieser Isolierung nicht erlöst werden können. Als Zuhörer wird man in diese Verlorenheit hineingezogen: Es sind Menschen ohne Ort, die in der Bar aufeinandertreffen.

Blickt man sich genauer um, dann sieht man an der Garderobe auch die alten Mäntel hängen und hinten, hinter einem Durchbruch durch die Wand, ein paar uralte Koffer. „Transit Bar“: Es geht um Menschen, die ihr Land verlassen mußten, die sich auf die Flucht begaben und für einen großen Teil ihres Lebens Fremde wurde. Vera Frenkel, in Bratislava geboren und in Toronto lebend, hat die-
ses Schicksal teilen müssen. Auch sie wurde Emigrantin.

Den Emigranten und Exilanten hat sie in der Pianobar ein liebenswertes Denkmal gesetzt. Sie zieht die Besucher hinein in diesen Schwebezustand zwischen verklärender Illusion (Palmen und Musik) und erschreckender Realität (Heimatlosigkeit). Denn da, wo man glaubt, pausieren und sich entspannen zu können, wird man auf listige Weise in die Welt zurückgeholt, die voller Menschen ist, die auf der Flucht sind und die verurteilt wurden, ihr Leben als Fremde zu beschließen.

Vera Frenkel hat nicht nur eine Video-Installation geschaffen; es ist eine Bühne entstanden. Als eintretender Besucher wird man Teil eines Spiels, das man ebenso wenig steuern kann wie die Klaviermusik. Schicksale werden gespiegelt, und man wird selbst zum Fremden.

Es liegt auch eine Zeitung mit den Texten aus, die in den Videos gesprochen werdcn. „Nein, ich habe nicht daran gedacht, zurückzukehren,“ ist zu lesen. „Wohin auch? Die Stadt ist zerstört worden.“:
Das ist bittere Gegenwart – immer noch.

HNA 2. 9. 1992

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