Eine schöne Vorstellung: Einmal im Jahr tragen die Künstler einer Stadt (einer Region) ihre besten Werke zusammen; sie stellen sich dem Vergleich, lassen den Reichtum der Kunst sichtbar werden, die Entwicklungen, und sie finden, wenn es ganz glücklich kommt, auch Kunden und Käufer, auf daß sie ein weiteres Jahr schaffen können. Man könnte ins Schwärmen geraten, hätte man nicht das jahrzehntelange Wehgeschrei in den Ohren, das die jährlichen Jahresschauen im Kasseler Kunstverein begleiteten. Es klagte jeweils die Jury über das zu große Angebot und über mangelnde Qualität, es klagten die Künstler, deren Werke nicht vor den Augen der Juroren Gnade gefunden hatten, es klagten die Kritiker über die Orientierungslosigkeit der Ausstellung und schließlich klagten Besucher, weil sie genau »ihre« Kunst nicht vorfanden.
Verfolgt man über Jahre die Kritiken der Jahresschauen zurück, kann man fast depressiv werden. Denn jahrein, jahraus setzten die Berichte mit einem langen Lamento ein: Auf der Suche nach einem festen Grund für die Ausstellung, für die Auswahl der Werke und deren Ordnung, glichen die Verfasser meist solchen Erbauern von Häusern, die ausgerechnet das Fundament im Sumpf gründen wollen.
Ist es ein Trost für Kassel und alle Künstler, die sich als Opfer der Jahresschau fühlen, daß es auch in größeren Städten und selbst in Kunstmetropolen nicht besser aussieht? Noch heute wird das Wort »das ist ja wieder eine Winterausstellung« von Spöttern im Raum Düsseldorf gern benutzt, obwohl die Kunstschau, auf deren Titel hierbei angespielt wird, stets größer und insgesamt respektabler war als die Kasseler Jahresschau. Aber hier wie dort gab es die gleichen Probleme zu bewältigen: Auf begrenztem Raum sollten möglichst viele Künstler mit beispielhaften Werken präsentiert werden. Im Alltag der Juroren, im zähen und ermüdenden Prozeß der allmählichen Sichtung, verlor die Forderung, man brauche ja nur die Qualität entscheiden zu lassen, stets sehr schnell ihre Konturen.
Auf die ersten zehn, zwanzig Werke hatte man sich ja schnell geeinigt – da schienen die Maßstäbe klar. Dann aber wurde es schwierig. War nicht der Künstler Mitbegründer des Vereins und in den letzten 20 Jahren regelmäßig dabei? Nun sollte er auf einmal ganz rausfallen? Mal ehrlich, hieß es dann, ist er denn soviel schlechter geworden?
In dem Moment, in dem sich eine Jury von einer solchen Argumentationsweise umstimmen läßt (wer könnte da auch unerbittlich bleiben?), ist sie in ihrem gesamten Anspruchsdenken korrumpiert. Denn jetzt haben die, die sich weich machen ließen, ihrerseits einen unsicheren Kandidaten gut (»ihm geht es augenblicklich finanziell sehr schlecht« oder: »jetzt haben wir ihn schon dreimal abgewiesen«). Der Rest ist Geschäft auf Gegenseitigkeit, vor allem dann, wenn es um die letzten Quadratmeter geht. Die erste Wahl ist längst gefallen, auch für die zweite würde wohl jeder gerade stehen, doch nun wird es beliebig. Und wenn dann gar noch jemand entdeckt, daß die Naiven oder Realisten oder … völlig vergessen seien, wird es peinlich.
Das Dilemma hat Tradition. Liest man bei Emile Zola nach, was der vor hundert Jahren über den alljährlichen Pariser Salon geschrieben hat, dann glaubt man kaum, daß sich die Welt mittlerweile gedreht haben soll.
Und der Kritiker – ist der besser dran als die Jury? Kaum. Natürlich kann auch für ihn der Gang durch die Gruppenausstellung zum Abenteuer werden – da entdeckt er eine völlig neue Entwicklung eines Malers, den er seit Jahren schätzt, dort fesselt ihn auf Anhieb die Zeichnung, ohne zu wissen, wer sich hinter dem Namen verbirgt. Doch darauf kann er sich nicht zurückziehen. Er muß (?) die Ausstellung einordnen in die Reihe gleichartiger Veranstaltungen, muß und will prüfen, inwieweit Trends, die anderswo erkennbar sind, auch hier ihren Niederschlag finden und muß sich mit den Entscheidungen der Jury auseinandersetzen. Hat er dies alles getan, ist die Hälfte des ihm zur Verfügung stehenden Platzes schon vollgeschrieben. Nun also hurtig zur Sache. Doch da sind die Zwänge für ihn keineswegs kleiner als für die Jury.
Einmal muß er streng auswählen, weil er nur wenige Beispiele einbeziehen kann, dann aber sollte er alle Richtungen und Techniken berücksichtigen, um die Vielfalt zu dokumentieren. Er unterliegt aber schnell der Gefahr, daß er die Kunstwerke als Belege für seine Thesen nimmt. Schließlich aber ist der Kritiker ebenfalls in das Geflecht der Kunstszene eingebunden, den Erwartungen ausgesetzt: Bekommt der Künstler Y nicht immer seine Erwähnung und ist er nicht mit dem Maler Z (dessen künstlerische Qualität außer Frage steht) so gut bekannt, daß es gar keiner bewußten Erinnerung bedarf, um diesen Namen in die Kritik einzubeziehen?
Die meisten Besprechungen von Gruppenausstellungen sind so unzureichend wie die Jury- Entscheidungen. Passagenweise wird die Schau als ein geschlossenes System behandelt, obwohl sie lediglich aus sehr unterschiedlichen einzelnen Elementen besteht. Die Auswahl der erwähnten und kurz charakterisierten Werke ist noch rigoroser. Wer auf diesen Anmerkungen eine künstlerische Tendenz bauen will, ist hoffnungslos verloren.
Trotzdem überrascht immer wieder, welche Wirkung gar ein Halbsatz erzeugen kann: Bei einer Jahresschau hatte eine Kunststudentin mit ihren schnell hingeworfenen, aber höchst kraftvollen Zeichnungen die gestrenge Jury passiert. Die kleinen Blätter machten mit einem neuen Talent bekannt. So gehörte zur Besprechung der Jahresschau ein knapper Hinweis auf diese Arbeiten. Erfreut meldete sich die Studentin beim Autor: Ihr sei fast das Brötchen aus dem Mund gefallen, als sie diese Anmerkung über sich gelesen habe. Natürlich schreibt der Journalist auch mit Blick auf die Betroffenen, die sich auf die Bühne der Jahresschau begeben haben und nun auf ein Echo des Publikums warten. Die Besprechung der Ausstellung, wie sie in der Zeitung erscheint, ist dabei immer nur eine mögliche Form der Auseinandersetzung. Meist kann sich der Autor auch ganz andere Formen vorstellen, ohne dabei seinen Standpunkt zu ändern. Noch ärger als die Jury drückt ihn die Platznot. Wer über die Jahre hinweg die Gruppenausstellungen an einem Ort verfolgt, dem sind nicht nur die meisten Namen vertraut, sondern auch die Werke, die den in der jeweiligen Jahresschau gezeigten Arbeiten vorausgingen. Aber zu allen beteiligten Künstlern etwas zu sagen, zu denen man etwas zu sagen hat, verbietet das Medium. Man schreibt eben doch nicht zuerst für die Künstler, um zu dokumentieren, zu ermutigen, zu sondieren und zu kritisieren, sondern für die aufgeschlossenen Leser, die eine kompakte Orientierung erwarten. Die 120 Druckzeilen, die im Normfall zur Verfügung stehen, sind schnell gefüllt. An kurze Einzelbesprechungen ist da gar nicht zu denken; die Tageszeitung ist dafür nicht das geeignete Forum.
Dennoch ist der spürbare Erwartungsdruck der Künstler bei jeder Übersichtsausstellung (für die die Jahresschau der alten Form nur ein Beispiel ist) groß. Schließlich sind ja auch solche Maler, Grafiker und Bildhauer darunter, die im Laufe eines Jahres sonst überhaupt keinen Zugang zur Öffentlichkeit haben – keine Ausstellung in einer Galerie, nicht mal in der Schalterhalle einer Bank. Und nun ist der große Tag da: Die Jury hat akzeptiert, die Künstlerschaft anerkannt – und wie reagieren die Besucher, was sagt die Kritik? War alles für die Katz, wenn niemand kauft und nicht mal andeutungsweise das Werk in der Kritik gewürdigt wird?
Die Besprechung ist überfordert, wenn sie auch solchen Erwartungen gerecht werden soll. Bei finanziell besser ausgestatteten Ausstellungen wird vieles durch die Veranstalter aufgefangen, indem sie einen Katalog herausgeben und jedem ausgewählten Künstler eine Abbildung zugestehen. Der Katalog, der dann den Anschein vermittelt, er würde die Werke für die Ewigkeit dokumentieren, wird zum Beweis der künstlerischen Existenz. Seine Leistung kann in dieser Beziehung keine Kritik ersetzen.
Die wahren Probleme der Jahresschau und vergleichbarer Veranstaltungen liegen aber wesentlich tiefer: Diese Übersichtsausstellungen sollen zwei Dinge miteinander vereinen, die, streng genommen, unvereinbar sind. Auf der einen Seite sollen alle professionell arbeitenden Künstler eines geografisch fest umrissenen Raumes die Chance erhalten, ihre neueren Werke der Offentlichkeit vorzustellen. Die Ausstellung wird zum Schaufenster, zum Markt, auf dem die Breite der künstlerischen Produktion erlebbar wird und auf dem auch (durch Verkäufe) die materielle Existenz abgesichert werden kann. Wer auf dem Markt nie erscheint, ist künstlerisch nicht vorhanden. Insofern deckt sich der Gedanke an eine möglichst umfassende Ubersichtsausstellung, deren Zusammensetzung durch keine Jury gefiltert wird, sehr genau mit den Zielen des BBK, der die Interessen aller »bildnerischschaffender« Künstler vertreten will. So wie jeder, der die in der Satzung festgelegten Bedingungen erfüllt, Mitglied im BBK werden kann, müßte jeder professionell arbeitende Künstler Zugang zu einer solchen Übersichtsausstellung haben, um das Publikum und den Mark zu erreichen. Die Fragen nach Aktualität und Qualität dürften dabei nicht mehr Gewicht haben als bei der Prüfung der Unterlagen vor Aufnahme in den BBK.
Auf der anderen Seite aber wollen alle auch eine Schau der Besten haben. Das heißt allerdings:
Strenge Auswahl, Jurierung ohne Rücksicht auf angestammte Rechte oder soziale Gesichtspunkte. Da geht es nicht mehr um Breite, sondern um Maßstäbe wie bei einer normalen Museums- oder
Kunstvereinsausstellung. Dergleichen wird von vielen gewünscht, doch ein solches Unternehmen paßt im Grunde genommen nicht zu den Anliegen, die der BBK zu vertreten hat.
Der Versuch jedoch, beide Ziele unausgesprochen in einer Ausstellung zu erreichen, ist zum Scheitern verurteilt. Da mag einmal mehr das Auswahlprinzip bevorzugt werden, ein anderes Mal eher der Gedanke an eine berufsständische Präsentation, doch stets bleiben am Ende nur die Ungereimtheiten und die fehlende Konsequenz sichtbar.
Ein weiteres Problem ist das mangelnde Interesse der überregional oder gar international erfolgreichen Künstler an diesen Übersichtsschauen. Sieht man von den politisch-kritischen Künstlern ab, die auch einen Sinn für gewerkschaftliche Arbeit haben, haben die meisten von ihnen derartige Gruppenausstellungen bestenfalls als Durchgangsstationen vor Augen. Genauso wenig wie sich viele dieser Künstler mit den BBK-Zielen solidarisieren wollen, genauso wenig sehen sie einen Anlaß für ihre Selbstdarstellung in einem solchen Rahmen. Doch gerade diese Talente, die an der Hochschule wirken oder andernorts ihre großen Ausstellungen feiern, müßten für die jeweilige regionale Übersichtsschau gewonnen werden, sollten in ihr nicht die künstlerischen Spitzen fehlen. Auch dies ist kein speziell Kasseler Problem. Die Große Düsseldorfer Kunstausstellung beispielsweise litt lange Zeit darunter, daß sich ihr die rheinische Avantgarde entzog. Durch gezielte (juryfreie) Einladungen konnte immerhin ein Teil wieder regional eingebunden werden. Auch bei der Ausstellung »Kunstszene Kassel 1985« wurde mit Erfolg dieses Rezept benutzt.
Die Jahresschau alter Form sollte gedanklich für immer verabschiedet werden. Ihr gespaltener Ansatz war unehrlich. Auch sind die Kunstszene, die Künstler und Veranstalter wohl überfordert, eine Übersichtsschau im Jahres-Rhythmus zu inszenieren. Dafür scheint der hiesige Markt nicht ergiebig genug. Trotzdem sollte gerade auch der BBK nicht das Ziel aus den Augen verlieren, gelegentlich oder regelmäßig allen hier tätigen Künstlern ein Forum zu bieten.
Den Ausweg aus diesem Dilemma sehe ich nur in einer großen Lösung: Es sollte möglich sein, alle paar Jahre sämtliche in der Region ansässigen oder aus ihr stammenden Künstler zu einer Ausstellung einzuladen; dabei sollten die Prominenten, die kein existenzielles Interesse an einer solchen Schau haben, mit besonderem Nachdruck zur Mitarbeit aufgefordert werden. Jeder der Eingeladenen müßte auch mit einer bestimmten (zahlenmäßig festgelegten) Werkauswahl vertreten sein. Eine Jury tritt in diesem Fall nur als Hängekommission auf. Schlägt man diesen Weg ein, öffnet man den Blick auf die gesamte Breite des regionalen Schaffens und öffnet allen den Zugang zum Markt.
Um aber sowohl für die Künstler als auch das Publikum Maßstäbe zu setzen, sollte eine Jury aus der Gesamtmenge diejenigen Arbeiten auswählen, die sie für besonders wegweisend und herausragend hält. Diese Auswahl könnte den inneren Kern der Gesamtschau bilden und so auf sie zurückstrahlen. Auf diese Weise würde übrigens auch das Urteil der Jury nachprüfbar. Vollendet würde das Unternehmen durch einen dokumentierenden Katalog.
Ein aufwendiger Weg, der viel Raum verlangt. Dergleichen könnte nur mit Erfolg in einem großen Ausstellungsgebäude über die Bühne gehen. Aber ein ehrlicher Weg, auf dem unmißverständlich zwischen den beiden Zielen unterschieden wird.
1988 für den Katalog 40 Jahre Bundesverband Bildender Künstler in Kassel und Nordhessen