Hilfeschreie und Monologe

Quer durch die documenta IX sind Video-Arbeiten verteilt. Die meisten dokumentieren die Schwierigkeiten beim Versuch, ins Gespräch zu kommen.

Die Größe der documenta IX und die Vielzahl der Ausstellungsorte drängt die Besucher zur Eile. Wer alles sehen will, muß sich sputen. Doch wer sich nicht Zeit lassen kann, sieht nicht alles. Das gilt vor allem für die Video-Arbeiten. Um sie zu erfassen, braucht man einen eigenen, von Ruhe bestimmten Rundgang.

Verstanden wird das am ehesten im 2. Stock des Museums Fridericianum. Fühlte man sich unten in der Eingangshalle von den quälenden Drill- und Hilfeschreien aus Bruce Naumans Video-Installation geradezu fortgetrieben, werden oben viele Besucher von den herrlichen Jazzklängen angezogen. Hier läßt man sich gerne nieder – vor der mitten im Raum hängenden Projektionswand, die die Parallelität zweier Perspektiven auf ein Jazz-Konzert erlaubt. Das Faszinierende dieser analytischen Video-Arbeit von Stan Douglas liegt darin, daß die Kamera sich nicht, wie es sonst üblich ist, an die gerade spielenden Musiker klammert, sondern daß sie auch genau diejenigen beobachtet, die auf ihren Einsatz warten.

Hatte die vorige documenta eine ganze Reihe von Video-Arbeiten präsentiert, die den Weg zur massiven Skulptur suchten, treten jetzt wieder stärker äußerlich unscheinbare, aber mehr erzählende Video-Beiträge in den Vordergrund. Am ehesten wird man Dara Birnbaums Installation, die sich kritisch mit US-Präsident Bush auseinandersetzt, als Skulptur bezeichnen können.

Rührt Naumans Arbeit an die Nerven, so bringt Gary Hills Videogang das eigene Körpergefühl aus der Balance. Man scheint sich in der Dunkelheit selbst zu verlieren und begegnet lebensgroßen Projektionen von Menschen, die einem nahe kommen, aber doch keine Notiz von einem nehmen: Einer der stärksten Erlebnisräume.

Dialog und Begegnung werden gesucht, doch man läuft aneinander vorbei und führt nur Monologe. Auch in Vera Frenkels „Transit Bar“ reden die Emigranten, die etwas von der Last ihrer Erinnerung loswerden wollen, nur nebeneinander her. Fast qualvoll werden die Dialog-Versuche, die Tony
Conrad an verschiedenen Punkten der Ausstellung in seinen Videos anzettelt. Er zieht die Zuschauer in Albträume hinein, fordert sie zum Nachdenken auf und überfällt sie mit graumsam-wirklichen Gedankenbildern über die menschlichen Beziehungen.

Rätselhaft und auch beunruhigend, aber doch still und poetisch dagegen wirkt der Video-Brunnen von Silvie und Chérif Defraoui im Ottoneum: Wie aus der Tiefe der Erinnerung tauchen im Wasser Bilder und Zeichen auf, Fragmente einer Welt, die jeder für sich anders zusammensetzt. Dieser Brunnen paßt ebenso gut in das Naturkundemuseum wie die dreiteilige Video-Arbeit von Marie José Burki. Zumindest den ersten Teil direkt im Eingang nimmt jeder wahr: Ein Mensch ruft von einem Monitor die Tiere, die auf dem gegenüberliegenden Monitor erscheinen, als das an, was sie sind – als Animaux – Tiere. Die aber kümmern sich nicht darum. Aber gelegentlich wird das Wort zurückgeworfen.

Mit Marie José Burki muß man bis ins oberste Geschoß des Museums hochsteigen, sich dort – gegenüber der legendären Holzbibliothek per Video in die Phantasiewelt der Bücher entführen zu lassen Hier kann man sich und Zeit vergessen.

HNA 11.9. 1992

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