Die Dimensionen gesprengt

Noch dieses Wochenende, und dann sind die 100 documenta-Tage vorbei. Die Kunstschau wurde heftig gescholten, und sie ermöglichte neue Einsichten. Für die Stadt Kassel wurde sie zu einem Fest.

Das Ende der documenta IX wird greifbar, und auf einmal fragt man sich: Habe ich auch alles gesehen? Wahrscheinlich ist die Zahl der Besucher nicht allzu groß, die wirklich jedes einzelne documenta-Werk registriert und in seiner ganzen Ausdehnung wahrgenommen haben. Denn darin bestand ja eine Besonderheit dieser von dem Belgier Jan Hoet organisierten Kunstschau, daß sie alle bisherigen Dimensionen sprengte. Je weiter die Ausstellungsplanung fortgeschritten war, desto mehr Räume eroberte Jan Hoet für die documenta. Er legte Spuren quer durch die Innenstadt und lockte die Besucher weit in den Auepark hinein. Ganz abgesehen von der Wahrnehmungsbereitschaft des einzelnen war es erst einmal ein räumliches und zeitliches Problem, sich die Ausstellung in ihrer Totalität zu erschließen. So wird Hoet nicht ganz falsch liegen, wenn er behauptet, daß viele seiner heftigsten Kritiker die documenta IX gar nicht richtig gesehen hätten.

Bezeichnenderweise haben viele, die mit Hoets AusstelIung scharf ins Gericht gingen, sehr emotional reagiert. Damit haben sie in der Ablehnung den belgischen Ausstellungsmacher in seinem Konzept bestätigt, der mit dieser documenta gegen die Konventionen und festgefügten Strukturen des Kunst- und Museumsbetriebes angehen wollte. Anders als die Kölner Ausstellung „Bilderstreit“, die fast nur vernichtende Urteile erntete und danach still zu Ende ging, wurde die documenta IX bis zuletzt heiß diskutiert. Sie könnte den Ausgangspunkt für einen fruchtbaren Streit bilden.

Eine der wichtigsten Leistungen dieser Kunstschau besteht denn auch darin, die Vielschichtigkeit und Gegenläufigkeiten der heutigen Kunst sichtbar gemacht zu haben. Jan Hoet hat die aktuelle Kunstszene von ihren Rändern und ihren extremsten Positionen her aufgerollt und dementsprechend eine Situation geschaffen, in der es nur Gleichwertiges gibt und kein dominierendes Zentrum. Die unterschiedlichsten Haltungen behaupten sich nebeneinander: Hier setzte der Nigerianer Mo Edoga allein auf das Können und die Sprache der Hände, und gleich nebenan entstand Jonathan Borofskys „Man Walking to the Sky“ („Himmelsstürmer“) aus dem Kopf. Beide Arbeiten sind gleichermaßen populär.

Das war und ist übrigens ein Kennzeichen dieser documenta, daß sie, so spröde und schwierig sie in manchen Bereichen ist, auf dem Kasseler Friedrichsplatz versöhnliche und populäre Signale setzte. Wie wäre sonst auch zu erklären, daß spontan eine Initiative zum Ankauf des „Himmelsstürmers“ gestartet wurde?

Als 1955 die erste documenta inszeniert wurde, hatten Arnold Bode und seine Mitstreiter im Sinn, breite Schichten, vor allem die Jugend, an die Kunst heranzuführen. Die documenta hat im Sinne Bodes 1992 das Ziel erreicht. Sie ist derzeit der einzige Ort der Welt, an dem sich in großem Maße die Menschen mit zeitgenössischer Kunst auseinandersetzen. Die rund 600 000 documenta-Besucher sind kein Qualitätsbeweis, sie sind aber ein Beleg dafür, wie wichtig die Vermittlungsrolle der dIX geworden ist.

Natürlich ist die documenta ein Kind dieser Zeit. Sie spiegelt vieles vom Zeitgeist. Beispielsweise überrascht es immer wieder, wie viele (und dabei unterschiedliche) Künstler den Tabubereich des Intimen – Toiletten, Badezimmer, Analbereich – als Ausgangspunkt für gesellschaftskritische Arbeiten wählten. Trotzdem ist dies keine bloße Zeitgeist-Ausstellung geworden.

In Erinnerung bleiben neben den wenigen hoffnungsvollen Bildern und Symbolen vor allem die vielen Räume, Installationen und Gemälde, aus denen die Not und die Ängste der Menschen herausschreien. Aber genau so, wie man thematische Pfade durch die Ausstellung ziehen kann, lassen sich rein ästhetische Linien verfolgen. Zu den Teilen der Ausstellung, die am meisten unterschätzt wurden, gehören die quer durch die gesamte documenta verteilten Beiträge zur Malerei. Obwohl breit vertreten, ist die Malerei für viele deshalb nicht so präsent, weil das Demonstrative und Plakative fehlt, weil die meisten Gemälde verhalten sind und sich nur mit der Farbe beschäftigen.

Überhaupt könnte man zum Absh1uß eine Führung zu den übersehenen Werken der documenta 9 veranstalten. Wer etwa hat das bildhauerische Alphabet studiert, das Micha Ullman in Form scheinbarer Kanaldeckel in die Fahrbahn hinter dem Museum Fridericianum eingelassen hat? Oder wer ist mit Ausdauer und wachsendem Vergnügen im Schlepptau von Patrick Corillon den abenteuerlichen Wegen des geheimnisvollen Oskar Serti gefolgt und ist auf diese Weise ins Reich der Poesie entführt worden? Die 100 Tage waren doch zu kurz.
HNA 19. 9. 1992

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