Danh Vo: July, IV, MDCCLXXVI, Kunsthalle Fridericianum, 1. 10. 31. 12. 2011
Rein Wolfs hat 2008 seine erste Arbeitsphase als Direktor der Kunsthalle Fridericianum in Kassel mit einem Paukenschlag begonnen, und er beendet diese Phase wiederum mit einem Paukenschlag. Vor über drei Jahren präsentierte er Christoph Büchels Deutsche Grammatik, eine Ausstellung, die nicht nur das ganze Gebäude in Beschlag nahm, sondern auch den davor liegenden Friedrichsplatz in eine Bühne für die deutsche Lebensart verwandelte. Jetzt hat er dem in Dänemark aufgewachsenen Vietnamesen Danh Vo (Jahrgang 1975) eineinhalb Geschosse des Fridericianums überlassen, damit dieser dort die Teile einer noch nicht vollendeten Arbeit zeigen kann: Danh Vo hat sich vorgenommen, die 46 Meter hohe Freiheitsstatue, die vor New York seit 15 Jahren die mit dem Schiff ankommenden Reisenden begrüßt, aus Kupfer nachformen zu lassen.
Ein Drittel der Figur ist fertig. Man muss es glauben, denn die über fünf Räume verstreuten Figuren- und Gewandteile der Monumentalstatue lassen nicht erkennen, wie weit sie schon zusammengebaut werden könnte. Es ist den Betrachtern überlassen, ob sie diese Formteile als Bruchstücke einer zerbrochenen Statue und damit einer zerstörten Freiheitsidee begreifen oder ob sie darin eher eine unfertige, noch zu vollende Freiheit sehen.
Für Hunderttausende war die Statue of Liberty ein großes Versprechen. Hoffnungen auf ein besseres und freieres Leben waren daran geknüpft. Will uns Danh Vo nun vorführen, dass sich dieses Versprechen in Einzelteile aufgelöst hat und somit wertlos geworden ist, oder will er sagen, dass an dem amerikanischen Traum immer noch gearbeitet wird? We the people nennt Vo – nach den ersten drei Worten in der Präambel der amerikanischen Verfassung seine monumentale Arbeit. So, wie die Verfassung ein Stück des gesamten Volkes ist, so sollen die Einzelformen der Freiheitsstatue die vielfältigen Bestandteile der Freiheit symbolisieren. Während der erste Teil in Kassel gezeigt wird, geht in Shanghai die Arbeit an der Statue weiter. 2013 soll die gesamte Figur vollendet sein und in Paris ausgestellt werden, ohne allerdings zusammengebaut und aufgestellt zu werden. Es ist jedoch gut vorstellbar, dass schon vor der Vollendung Einzelteile verkauft werden, weil sich Sammler und Museen Bruchstücke der Verkörperung der Freiheit vorzeigen wollen.
Wie geht man mit einer Ausstellung um, die erst einmal wie ein großes Puzzle wirkt? Sind die einzelnen geformten Kupferbleche autonome Skulpturen, die auch dann Bestand haben, wenn sie nicht der großen Formidee untergeordnet werden? Die Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Doch Danh Vo stellt uns die Formteile schon sehr selbstbewusst als Skulpturen vor. Ablesbar wird das an dem variationsreichen Umgang mit dem Problem des Sockels. Mal stehen oder liegen die Kupferformen auf dem Boden, mal werden sie auf Paletten präsentiert, dann wieder wie während des Transportes auf alten Autoreifen. Am Auffälligsten wird die Problemlösung in dem zentralen hohen Saal, in dem eines der figürlichsten Stücke, ein Blech mit den fünf riesigen Zehen des rechten Fußes, zu sehen ist. Da ruht das weit ausladende Blech auf vier blauen Rollbänken, die zum Transport eingesetzt werden. Hier wird der Sockel zu einem zentralen Motiv.
Die Zehen weisen in die Stadt und über sie hinweg zu einer zwar kleineren, aber ebenfalls monumentalen Figur zum Herkules, der seit 1717 über der Stadt thront. Herkules und Freiheitsstatue sind nicht nur auf ähnliche Weise aus Kupfer getrieben. Beide stehen in unmittelbarer Beziehung zueinander. Denn nach dem Vorbild des begehbaren Herkules (8,25 Meter) wurde die Freiheitsstatue gebaut.
31 Tonnen Kupfer sind in der Kunsthalle Fridericianum zu sehen. Zwei Drittel der Kupfermenge, also gut 20 Tonnen, wurden noch nicht ausgeformt, sondern ruhen in Blöcken aufeinander, um zu symbolisieren, was noch zu tun bleibt. Diese spiegelnden Kupferstapel gewinnen fast noch mehr Objektcharakter als einige Formteile, da sie wie Vorratslager und im Sinne von Joseph Beuys wie Energiespeicher wirken.
Ein Stockwerk tiefer, im Erdgeschoss, wird ein solcher Stapel aus Kupferplatten in einen Sockel verwandelt. Während durch die offene Tür der Blick auf eine leicht chaotische Werkstatt fällt, ist der Hauptraum sauber, ordentlich und nahezu leer. Allein in der Mitte ruht wie ein Altar der Stapel Kupferplatten, auf dem eine Zeitung von 1945 und eine Schreibmaschine liegen beziehungsweise stehen. Beide, die Zeitungsseite und die Schreibmaschine, haben direkt nichts mit der Freiheitsstatue zu tun, wohl aber mit der Freiheitsidee, ihrer Gefährdung, Zerstörung und eigentümlichen Auslegung. Die Zeitungsseite der New York Times meldet die Hochzeit von George Bush (Vater), und die Schreibmaschine war im Besitz des Wissenschaftlers Theodore Kaczynski, der 17 Jahre lang Briefbomben verschickte und als Unabomber zu zweifelhaftem Ruhm gelangte. Sein Manifest hatte Kaczynski auf genau der Schreibmaschine geschrieben, die Danh Vo aus dem Besitz des FBI ersteigern konnte.
Nimmt man noch die Fototransparente hinzu, die unter dem Portikus hängen und eine Szene vom ersten amerikanischen Weltraumspaziergang zeigen, dann wird ersichtlich, dass der Künstler auf höchst unterschiedlichen Ebenen den von den Amerikanern soll stolz in Anspruch genommenen Freiheitsbegriff umkreist und in Frage stellt. Zentral ist dabei der Bezug auf die Inschrift der Tafel, die die Freiheitsstatue in der Hand hält. Sie wurde zum Titel der Ausstellung. Die Inschrift July, IV, MDCCLXXVI ist der schlichte Verweis auf den 4. Juli 1776, an dem die USA ihre Unabhängigkeit erklärten.
So schließt sich der Kreis auch im Verhältnis der von Rein Wolfs organisierten Ausstellungen untereinander: Während Christoph Büchel das deutsche Wesen zwischen Stasi-Büro und Sonnenbank ausmachte und in radikaler Wirklichkeitsform präsentierte, führt Danh Vo den zur Ideologie erhobenen Freiheitsbegriff der Amerikaner mit allen Verirrungen vor. Der Weg zur Freiheit, so wird in dieser Materialschlacht deutlich, ist länger geworden. Die Ausstellung wird zum fernen Echo auf die Deutsche Grammatik.
Kunstforum, November 2011