Die Stärke der Künstlerinnen

Zur Vergabe des Kasseler Kunstpreises

Ein beherrschendes Thema der Kunstdiskussionen in den 70er- und 80er-Jahren war die Frage nach der weiblichen Kreativität. Während der Anteil der Kunstkritikerinnen damals bereits groß war, spielten Frauen im Ausstellungsbetrieb kaum eine Rolle – weder als Künstlerinnen noch als Kuratorinnen. Ob documenta, Biennalen, Themen- oder Einzelausstellungen – überall waren Künstlerinnen nur Einzelerscheinungen. Untersuchungen aus Anlass von Ausstellungen, die ausschließlich Künstlerinnen vorbehalten waren, förderten rasch zutage, dass zwei Faktoren für diese Situation ausschlaggebend waren: In der Vergangenheit entschieden sich sehr viel weniger Frauen als Männer für eine professionelle künstlerische Ausbildung (bzw. wurden dazu zugelassen); und viele von denen, die mit Erfolg eine solche Ausbildung absolviert hatten, stellten ihre eigene Kreativität zurück, wenn sie die Ehe mit einem Künstler eingegangen waren.

Die natürliche Folge dieser Situationsbeschreibung war, dass häufig bei jurierten Ausstellungen oder Förderprogrammen die Frage gestellt wurde, ob man denn nicht auch noch Frauen einbeziehen könne oder müsse. Wie viel Verkennung und Missachtung in einer solchen Frage steckt, wurde selten bedacht.

Warum verweise ich auf diesen Aspekt der jüngeren Kunstgeschichte, wenn ich von der Vergabepraxis des Kasseler Kunstpreises der Dr. Wolfgang Zippel-Stiftung spreche? Weil für diesen Preis genau das Gegenteil gilt. Die zehnjährige Geschichte des Kasseler Kunstpreises scheint die vorausgeschickte Situationsbeschreibung total zu widerlegen: Bei den zehn Verleihungen (einschließlich 2001) wurde der Kasseler Kunstpreis einmal im Bereich der Bildenden Kunst nicht vergeben; einmal wurde mit ihm die Klasse Dorothee v. Windheim (1993) bedacht und in einem Jahr (2000) wurde er doppelt an Jens Nedowlatschil und Candela 2 vergeben. In sieben Fällen aber ging der Preis im Bereich der Bildenden Kunst an Künstlerinnen: Astrid Schneider, Natalie Ital, Ute Lindner, Monika Götz, Angela Hiß, Christiane Hause und Marion Garz.

Obwohl der Stiftungsrat seine Entscheidungen bewusst und nach sorgfältiger Abwägung getroffen hat, ist diese klare Dominanz der jungen Künstlerinnen in der Liste der Preisträger weder sein Verdienst noch Ausdruck eines besonderen Förderbewusstseins. Im Gegenteil, die Tatsache, dass der Anteil der Künstlerinnen überproportional hoch ist, wurde erst relativ spät angesprochen, dann aber auch gleich wieder beiseite gedrängt – weil dies für den Stiftungsrat nie ein Thema war. Insofern ist die Begründung dafür ganz simpel, warum der Kasseler Kunstpreis vornehmlich Künstlerinnen zugesprochen wurde – weil sie in der jeweiligen Bewerbungslage die überzeugenderen Talente gewesen waren.

Die Vorgabe der Stiftungssatzung, für den Kasseler Kunstpreis Künstler auszuwählen, die nicht älter als 30 Jahre alt sind, birgt natürlich große Chancen und Freiheiten, wurde erst einmal aber als doppelte Last empfunden. Vor allem in den ersten Jahren, in denen der Preis noch nicht ausgeschrieben worden war und Selbstbewerbungen nicht möglich waren, schien es kaum leistbar, Jahr für Jahr preiswürdige Künstlerinnen und Künstler zu finden, die die 30 nicht überschritten hatten. Man wusste ja aus zahlreichen Biografien, dass viele Künstler erst auf Umwegen zu ihrem Werk gekommen sind und sich erst in einem höheren Alter bemerkbar machten. Selbst unter der Voraussetzung, dass man kein fertig entfaltetes, sondern ein sich entwickelndes Talent auszeichnen sollte, musste man doch mehr sehen können als nur eine Arbeit oder eine kleine Ausstellung, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Die andere Last bestand in der Verantwortung, die man mit dem Votum übernahm: In der Regel muss sich der Stiftungsrat für ein künstlerisches Talent entscheiden, das sich gerade im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung befindet. Gewiss basiert die Preisentscheidung meist darauf, dass die- oder derjenige schon in anderen Zusammenhängen auffällig war, aber der Stiftungsrat kommt unter diesen Bedingungen nie in die Verlegenheit jemandem einen Preis hinterher zu werfen, der schon andere Auszeichnungen eingesammelt hat. Er muss den ersten Schritt tun und das Risiko eingehen, dass er sich für jemanden entscheidet, der das gerade aktuelle Formenvokabular beherrscht und ein paar Jahre später im Unsichtbaren verschwindet, oder der bald merkt, dass seine Berufung doch auf einem ganz anderen Feld liegt. Aber es kann auch passieren, dass man mit der Preisvergabe eine Künstlerin oder einen Künstler unter Druck setzt und damit den Ausstiegsprozess aus der Kunst beschleunigt.

Natürlich sähe es die Jury am liebsten, wenn die Ausgezeichneten im Ausstellungsbetrieb und auf dem Kunstmarkt ankämen, weil sie dann das Urteil des Gremiums bestätigen würden. Aber geht es darum, dass der Stiftungsrat auf Dauer recht bekommt? Das kann ja nicht das Ziel einer Ehrung sein, die finanziell die Dimensionen eines ausgewachsenen Preises hat, die aber in erster Linie als eine gezielte Förderung gedacht ist. Ich denke, dass man das richtige Verhältnis zu dem Preis gewinnt, wenn man ihn als materielle und ideelle Ermutigung zu dem Zeitpunkt begreift, zu dem er vergeben wird. So ist er sinnvoll und kann helfen, so kann er auch andere anspornen, sich um den Preis zu bemühen. Von daher ist die Entscheidung richtig, den Preis auszuschreiben.

Es macht keinen Sinn, an dieser Stelle die Begründungen für die jeweiligen Entscheidungen zu erörtern. Ich denke, die Vorstellung der einzelnen Preisträger sagt genug aus. Nur eine Ausnahme will ich machen: Das Votum für die Klasse Dorothee von Windheim im Jahre 1993 war nicht der Ausdruck einer Verlegenheit, sondern hatte Signalcharakter. Nachdem es in den 80er-Jahren heftige Kontroversen um den Zustand und die Entwicklung der heutigen Kunsthochschule innerhalb der Universität Gesamthochschule Kassel gegeben hatte, führte ein Generationswechsel zu Ende der 80er- und Beginn der 90er-Jahre zu einer Neuausrichtung der Kunstausbildung in Kassel. Die Neuberufungen hatten einen Kreativitätsschub bewirkt, der mehr Talenten zur Entfaltung verhalf und auch das Selbstbewusstsein stärkte. Die Ausstellung der Klasse von Dorothee v. Windheim im Kasseler Kunstverein (der andere Ausstellungen in ähnlicher Form folgten), war ein erstes öffentliches Signal für diesen Neuanfang. Und da bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze diese Ausstellung außerordentlich homogen wirkte, war die Klassen-Ehrung sinnvoll und war als eine stellvertretende Anerkennung der Kunstausbildung gedacht. Überhaupt ist der Kasseler Kunstpreis – ohne dass es angestrebt worden wäre – indirekt zu einem Preis für die Kasseler Kunsthochschulstudenten und –absolventen geworden. Umgekehrt bedeutet das, dass der Stiftungsrat große Probleme mit der Talentsuche hätte, gäbe es die Kunsthochschule nicht.

Bei seinen Entscheidungen muss der Stiftungsrat volles Risiko eingehen. Häufig ist er das erste Gremium, das einen Einzelnen herausheben kann, muss und darf. Allerdings ganz ins Ungewisse tappt er nicht. In den meisten Fällen sind schon andere kleine Vorentscheidungen vorausgegangen. Die Ausstellung der Windheim-Klasse im Kunstverein war ein solcher Fall. Bei Astrid Schneider, der ersten Preisträgerin, war die Aufnahme in die Ausstellung „Dem Herkules zu Füßen“ die Chance gewesen, ihre Arbeit kennen zu lernen., andere Preisträger fielen bei der Rundgangs-Ausstellung in der Kunsthochschule oder bei Ausstellungsprojekten im Stellwerk, in der Kunstetage in Dock 4 oder im Fridericianum auf. Das heißt, die Basis einer Künstlerförderung ist nicht erst der Preis, sondern das Sichtbarmachen der Kunst in Ausstellungen. Deshalb kann man nur wünschen, dass diese Ausstellungsforen erhalten bleiben. Talente, die sie bespielen können, gibt es offenbar genug.

Noch ist die Geschichte der Preisvergabe zu kurz, als dass man mit Sicherheit sagen könnte, die eine oder der andere von den Ausgezeichneten habe tatsächlich seinen Weg gemacht. Wenn man aber bedenkt, dass der Stiftungsrat bei seiner Entscheidung nicht ausschließlich die Qualität eines Werkes als Kriterium genommen hat, sondern auch die Offenheit und Entwicklungsmöglichkeiten, dann waren die bisherigen Voten nicht schlecht: Viele Preisträger(innen) nutzten die Zeit nach ihrer Ehrung noch zur Weiterbildung und arbeiten heute zum Teil an ganz anderen Projekten als zur Zeit der Preisvergabe.

Juni 2001

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