dOCUMENTA (13) -13 Annäherungen an eine Ausstellung

Der folgende Text entstand auf der Grundlage eines Vortrages, den der Publizist Dirk Schwarze am 23. Juni in der Akademie-Tagung zur dOCUMENTA (13) gehalten hat.

I. Inszenierung
Ihren großen Erfolg verdankte die documenta von 1955 der Tatsache, dass es Arnold Bode und Werner Haftmann gelang, einen konzentrierten Überblick über die Meisterwerke der Moderne zu zeigen und gleichzeitig einen Einblick in die europäische Kunstproduktion der Nachkriegszeit zu ermöglichen. Doch nicht weniger wichtig für den Erfolg war Arnold Bodes einzigartige Inszenierungskunst. Er verzauberte die Gemälde und Skulpturen, indem er mit rohen Wänden, schwarz-weiß Kontrasten, indirektem Licht und theatralischen Plastikvorhängen spielte.
Es war Hans Curjel, der 1956 im Rückblick auf die erste documenta in der „Innenarchitektur“ den aus dem Theater stammenden Begriff „inszenieren“ auf Bodes Ausstellung erstmals übertrug. Arnold Bode, der auch Messestände gestaltet hatte, steigerte 1964 seine Inszenierungskunst, als er in der documenta III vorführen wollte, dass jetzt mehr und mehr Maler in den Raum hinein wirken wollten. Knapp ein halbes Jahr rang Bode mit dem von ihm hoch geschätzten Maler Ernst Wilhelm Nay darum, dass dieser drei vier mal vier Meter große Gemälde als eine Bilderfolge schaffen sollte, die Bode im Museum Fridericianum schräg unter die Decke hängen wollte. Am Ende setzte sich der Gestalter durch. Doch der Maler jedoch erntete nicht nur Bewunderung.

An diese Anfänge muss man erinnern, wenn man richtig einschätzen will, wie stark Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) in ihre dOCUMENTA (13) inszenierend eingriff. Es ist so, als wollte sie alle nachdrücklich auf ihren ganz eigenen Weg der Gestaltungskunst hinweisen. Da ist beispielsweise in der Erdgeschoss-Rotunde im Fridericianum das „Brain“ (Gehirn) – eine Art Schatz- und Wunderkammer, in der die künstlerische Leiterin auf kleinstem Raum Objekte, Bilder, Skulpturen, Texte, Fotos und Videos vereinigt hat, die eigenständig sind, aber doch viel mit der Ausstellung zu tun haben. Diese Zusammenstellung kann als ihr persönliches Vorwort zur Ausstellung, als ihr bildnerisches Konzept verstanden werden.

Und im Kontrast dazu hat sie die beiden Erdgeschossflügel des Fridericianums nahezu leer gelassen, um mit Hilfe der Windmaschinen von Ryan Gander die Verschwendung des Raumes zu zelebrieren. Wo ein Gehirn arbeitet, braucht es auch zwei Lungenflügel, die durchatmen, hat der Künstler Lutz Freyer gesagt. Genau. Nach diesem Raumerlebnis fragt man nicht mehr, wer für die Inszenierung verantwortlich sei.
Unübersehbar ist auch, um ein zweites Beispiel zu nennen, die meisterhafte Inszenierung des zeichnerischen und malerischen Werkes von Gustav Metzger. Durch nahezu die gesamte documenta-Halle ziehen sich die Vitrinen mit den frühen Werken dieses Künstlers. Ohne Mühe hätte CCB einen abgedunkelten Raum für die lichtempfindlichen Blätter finden können. Indem sie aber die Zeichnungen in der lichtdurchfluteten Halle in Vitrinen präsentierte, die natürlich mit Schutzdecken versehen werden mussten, machte die documenta-Leiterin bewusst, dass wir es mit Bildern zu tun haben, die über Jahrzehnte verborgen waren und nun Stück für Stück erstmals wieder ans Tageslicht geholt werden müssen.

II. Globalisierung

1959 nannte die „Braunschweiger Zeitung“ die zweite documenta eine „Weltschau zeitgenössischer Kunst“. Dieses Prädikat stimmte allerdings nur aus der eingeschränkten westeuropäisch-amerikanischen Perspektive. Von einer Weltschau war die II. documenta weit entfernt. Vor allem dachte niemand daran, die Kunst Afrikas, Asiens und Australiens zu berücksichtigen. Noch 1987 erklärte documenta-Leiter Manfred Schneckenburger ganz im Geist atlantischer Selbstherrlichkeit, ein Dialog zwischen der sogenannten Westkunst und der Kunst der „Dritten Welt“ verbiete sich von selbst. Auch noch Catherine David, die ihre documenta X im Zeichen der Globalisierung plante, meinte, Länder wie China könne sie nur berücksichtigen, wenn man die Grenzen der Kunst überspringe und den Blick auf die Literatur oder andere kulturelle Leistungen lenke. Erst nach der Jahrtausendwende verdiente die documenta, wirklich eine Weltschau der Kunst genannt zu werden. Aber es war Carolyn Christov-Bakargiev, die mit der dOCUMENTA (13) die Globalisierung am weitesten vorantrieb. Die Tatsache, dass in dieser Ausstellung Künstler aus rund 55 Ländern vertreten waren, ist ein Beleg dafür.
Globalisierung meint aber nicht nur die Einbeziehung der entferntesten Länder und Kulturen, sondern auch unterschiedlichster Kunsthaltungen. So eröffnete CCB einen Dialog zwischen intellektueller Konzeptkunst und archaischer Kunst der australischen Aborigines.
Und schließlich ist die Ausstellung selbst globalisiert worden: Okwui Enwezor hatte damit zur Documenta11 begonnen, indem er seine Plattform-Diskussion rund um den Erdball stattfinden ließ. Carolyn Christov-Bakargiev ging einen großen Schritt weiter. Sie startete parallel zur Kasseler Ausstellung Satelliten-Projekte in Kabul, Alexandria/Kairo und Banff (Kanada), wobei die afghanische Hauptstadt so etwas wie eine Mini-documenta
erhielt.

III. Konzept

Carolyn Christov-Bakagiev liebt es, mit der Öffentlichkeit und deren Erwartungen zu spielen. Wie ihre Vorgänger hielt sie zwar ihre Künstlerliste geheim, brachte aber immer wieder Künstlernamen ins Spiel, ohne zu erkennen zu geben, ob sie in der Ausstellung dabei sein würden. Und hartnäckig behauptete sie in Vorträgen und Interviews, sie habe kein Konzept. Dabei hat sie ein so ausgefeiltes Konzept verfolgt wie lange keine documenta-Leitung vor ihr. Der sichtbarste Beweis dafür ist das eingangs genannte „Brain“. Aber auch die Tatsache, dass jede Künstlerin und jeder Künstler, die zur dOCUMENTA (13) eingeladen wurden, mit CCB einen Ausflug zum ehemaligen Kloster Breitenau unternehmen mussten, um sich angesichts des früheren KZs und Erziehungsheimes auf das große Thema „collaps and recovery“ einstimmen zu lassen, dokumentiert das zielgerichtete Vorgehen.

Für das strenge konzeptionelle Vorgehen spricht auch die Tatsache, dass CCB bereits in ihrem ersten documenta-Vortrag im Herbst 2009 in Turin mit der Vorstellung eines Fotos verband, das jetzt auch eine zentrale Rolle in der Kasseler Ausstellung spielt. Es handelt sich um das Bild von der II. documenta, das eine Frau und einen Mann vor Kleinskulpturen von Julio Gonzalez zeigt und klar macht, dass man dann die Kunst richtig betrachtet, wenn man das Verhältnis zum Publikum einbezieht.

IV. Wissenschaft

Die documenta 5 von Harald Szeemann hatte 1972 erstmals neben Kunstwerken auch nicht-künstlerische Arbeiten präsentiert. Doch die Beispiele aus der Werbung, Propaganda und Volksfrömmigkeit gehörten alle in die Kategorie der verschiedenen Bildwelten, mit denen die documenta 5 vertraut machen wollte.
Carolyn Christov-Bakargiev dachte weit über diesen Ansatz hinaus. Von der These ausgehend, dass heute Kunst, Wissenschaft und andere Bereiche des Lebens sich gegenseitig austauschen und berücksichtigen müssen, wenn Probleme gelöst werden wollen, öffnete CCB die Ausstellung auch für nicht-künstlerische Arbeiten. Der prominenteste Beitrag kam von dem Quantenphysiker Anton Zeilinger, der an Hand von Versuchsanordnungen demonstrierte, dass das Alphabeth des Lebens neu buchstabiert werden muss. Vor allem im Ottoneum (Naturkundemuseum) wurde das Ineinandergreifen von Kunst, wissenschaftlicher Simulation und tatsächlicher Forschung offenbar.
Korbinian Aigners bezaubernde Serien von Apfelbildern hatten dementsprechend mehr mit Klassifikation und Forschung als mit Kunst im Sinne von Cezannes Apfelbildern zu tun. Umgekehrt führten Mark Lombardis kleinteilige Recherchen zur Entschlüsselung von Kapitalverknüpfungen wie von selbst zu hoch ästhetischen Diagrammen.

V. Zeit

Der documenta-Beitrag von Anri Sala hat programmatischen Charakter für die Ausstellung gehabt. Sala hatte am Ende des Hirschgrabens eine riesige Uhr aufgestellt. Er kam auf die Idee, nachdem er im Astronomisch-Physikalischen Kabinett ein Gemälde entdeckt hatte, in das eine richtige Uhr eingebaut worden ist. Der Fehler dieser eigenwilligen Montage war nur, dass die Uhr in normaler Draufsicht zu sehen ist, das Bauwerk aber, das die Uhr trägt, perspektivisch verzerrt dargestellt ist. Sali wollte das modellhaft korrigieren, indem er mit Hilfe von Uhrmachern eine Uhr mit perspektivisch verzerrtem Ziffernblatt konstruierte. Das Meisterstück gelang.
Die Zeit ist ein durchgängiges Thema der dOCUMENTA (13) gewesen. In seiner grandiosen Video-Installation „The Refusal of Time“ setzte sich William Kentridge mit dem unentwegten Lauf der Zeit und ihrer Normierung auseinander. Die Koreaner MOON & JEON versuchten in der documenta-Halle einen Blick auf unsere Gegenwart aus der Perspektive einer späteren Zukunft. Und Faivovich & Goldberg wandten sich den Ursprüngen unserer Welt und unserer Geschichte zu, indem sie sich mit den 4,5 Milliarden alten Meteoriten beschäftigten.

VI. Realität

Jedes Kunstwerk ist politisch, auch dann, wenn sich Giorgio Morandis Stillleben und Landschaften, die in den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden sind, dem politischen Zugriff entziehen und über die Schrecken des Zweiten Weltkrieges hinweggehen. Insofern war auch jede frühere documenta politisch. Aber keine frühere documenta hat sich so intensiv auf die Politik (brandaktuell etwa der Bürgerkrieg in Syrien), auf die Geschichte und die Realität eingelassen, wie es jetzt unter der Verantwortung von Carolyn Christov-Bakargiev der Fall war.
So hat man das sichere Gefühl, dass nicht die Frage nach der Form und der Ästhetik entscheidend für die Auswahl der Künstler und Werke war, sondern die Brisanz des Problems. Das gilt für Amy Balkins Versuch, die Erdatmosphäre auf die Welterbeliste der Unesco zu setzen, ebenso wie für die Bemühungen von Claire Pentecost, den Humusboden als das wahre Gold unserer Gesellschaft zu begreifen. Bei der Auswahl der Projekte gab es keine Tabus. Folglich konnte Anibal Lopez einen anonymen Gast in eine Gesprächsrunde holen, der offen erklärte, dass in seinem Heimatland Guatemala derart erschreckende Zustände herrschten, dass seine Arbeit als Auftragskiller dort als nahezu normaler Beruf angesehen werde.
Trotzdem war keine didaktische Ausstellung entstanden, weil selbst dann, wenn brennende Probleme zu vermitteln waren, die Künstler durchweg einen Weg fanden, um an den Anfang ein ästhetisches Erlebnis zu stellen. So baute Fiona Hall eine Jagdhütte, in der sie seltene Tiere wie in einer Trophäen-Sammlung präsentierte. Die vermeintlichen Jagdbeuten erwiesen sich als raffinierte Collagen aus Uniformstoffen und Kuriositäten. Die Sinne wurden in diesem Geisterhaus reichlich genährt, bevor die Botschaft ankam.

VII. Geschichte

Die Mutter der documenta-Leiterin hatte als Archäologin gearbeitet. Vielleicht liegt darin begründet, warum CCB die von ihr benutzten Orte stets in ihren historischen Kontexten sieht und Wurzeln freilegt. So kam es, dass das Fridericianum zwölfmal als der Hauptstandort der documenta relativ unreflektiert benutzt wurde, bevor beim 13. Mal erstmalig die Zerstörung des Gebäudes und der in ihm beheimateten Bibliothek im Jahre 1941 thematisiert wurde. Die in Kassel verbrannten Bücher waren Anlass für CCB und einige der von ihr eingeladenen Künstler, um auf das Schicksal anderer zerstörter Bibliotheken, Museen und Kunstwerke (wie die monumentalen Buddha-Figuren in Afghanistan) zu verweisen.
Ohne Vergangenheit keine Gegenwart. Das hieß für CCB, auch zu bedenken, dass der Rosenhang am Rand der Karlsaue auf dem Trümmerschutt der zerstörten Innenstadt angelegt wurde und dass die Geschichte Kassels nicht zu erzählen ist, ohne an das ehemalige Kloster Breitenau und seine Rolle als Arbeitshaus, KZ und Erziehungsheim zu erinnern.

VIII. Afghanistan

Der unerklärte und aussichtslose Krieg, der Teil der afghanischen Wirklichkeit ist, hat auch unser Weltbild verändert. Wir müssen wieder lernen, was Soldatentod bedeutet. Das ist der eine Grund dafür, dass sich Carolyn Christov-Bakargiev mit unglaublichem Engagement auf die Auseinandersetzung mit Afghanistan eingelassen hat. Mit Hilfe von Debatten, Kulturprojekten, Workshops und kleinen Ausstellungen versuchte CCB, dem geschundenen Land wieder ein wenig seiner kulturellen Identität zurückzugeben. Gleichzeitig animierte sie Künstler, sich auf Afghanistan einzulassen und implantierte der Kasseler Ausstellung eine Sonderschau (im ehemaligen Elisabethkrankenhaus) mit Werken afghanischer Künstler.
Der zweite und tiefere Grund für das Afghanistan-Engagement aber ist, dass der Arte Povera-Künstler (italienische Kunst der 60er-Jahre, die mit Alltagsmaterialien arbeitete) Alighiero Boetti von 1971 bis 1977 regelmäßig in Kabul lebte, dort das One Hotel begründete und betrieb und dort seine Wandteppiche, „Mappa“ (Weltkarten) genannt, herstellen ließ. CCB kannte als Autorin eines Arte Povera-Buches diese Spur, wurde aber noch einmal darauf gestoßen, als sie sah, dass der Künstler Mario Garcia Torres Boettis Afghanistan-Aktivitäten erforschte und dem 1994 gestorbenen Künstler nach dem 11. September 2001 fiktive Faxe mit Nachrichten zum Afghanistan-Konflikt sandte. Diese künstlerische Aufarbeitung durch Garcia Torres wurde zu einem zentralen Pfeiler der Ausstellung, auf dem Goshka Macuga mit ihrem faszinierenden halbrunden Foto-Teppich, der eine surreale Festgesellschaft vor dem zerstörten Darun Aman Palace zeigt, aufbauen konnte.

IX. Tiere

Die dOCUMENTA (13) hat nach einem neuen Verhältnis zur Welt gesucht. CCB, die sich selbst als Ökofeministin bezeichnet hat, blickte dabei über die Grenzen des Menschlichen hinaus. Sie beschäftigte sich ebenso mit der Frage, inwieweit Dinge Gefühle und Traumata haben können, wie mit den Zweifeln an der Alleinstellung der Menschen in der Natur.
Als CCB ein Jahr vor Eröffnung der dOCUMENTA (13) einen Hundekalender – mit Fotos von Vierbeinern von Künstlern, Kuratoren und Agenten der Ausstellung – vorstellte, schmunzelten viele. Doch bei aller selbstironischen Distanz meinte die documenta-Leiterin ihr Plädoyer für eine Neubesinnung zum Umgang mit Tieren ernst. Brian Jungen sorgte für einen kleinen Skulpturenpark als Erlebnisraum für Hunde und deren Begleiter, und Donna Haraway wurde zur Schutzbefohlenen der Vierbeiner.
Vieles war überpointiert und bewusst auf Missverständnis angelegt – wie der Ruf nach einem Wahlrecht für Erdbeeren. Doch wenn zu einer dTOUR (einem geführten Ausstellungsrundgang) mit Hunden eingeladen wurde, waren viele überzeugt, ein anderes Ausstellungserlebnis gehabt zu haben.

X. Körpergefühl

Die dOCUMENTA (13) wollte alle Sinne stimulieren, ein neues Körpergefühl vermitteln. Wir sind es gewohnt, in Ausstellungen zu sehen und zu hören. Eher ungewohnt aber ist, im geschlossenen Raum den Körper einem Durchzug, einen Wind auszusetzen. Ryan Gander gelang das Kunststück. Er verhalf dazu, die Leere körperlich zu fühlen: Als Besucher sah man sich im fast leeren Erdgeschoss des Fridericianums einem kräftigen Luftstrom ausgesetzt.

Auch bei Christian Philipp Müller ging es in der Karlsaue um das Körpergefühl, wenn man seiner Einladung folgte und bereit war, auf den schwankenden Pontonbooten zwischen Kästen aus Mangold den Küchengraben zu überqueren.

Sich selbst und das eigene Körpergefühl verlieren konnte man in dem dunklen Raum (Bode-Saal) zwischen Hotel Hessenland und Hugenottenhaus. Nur langsam gewann man in der Dunkelheit Orientierung und nahm man erst allmählich gewahr, dass man sich zwischen Tänzern bewegte, die sprachen, riefen und rhythmisch sangen und die Besucher mit ihrem Tanz umgarnten: Wo befand man sich, kam man nicht anderen Besuchern zu nahe? Und wie sollte man reagieren, wenn man von flüsternden oder zischenden Gestalten umtanzt wurde?

XI. Unsichtbar

Im Ausstellungsplan steht, dass der dunkle Raum von Tino Sehgal gestaltet ist. Will man aber mehr über ihn und sein Werk erfahren, stößt man ins Leere: Die beiden ihm zugedachten Seiten im Begleitbuch fehlen. Er macht sich unsichtbar, während man sein Projekt mit allen Sinnen erfahren kann. Als bildender Künstler unsichtbar bleibt auch Francesco Mattarese, der seit Jahren schon keine Werke mehr produziert und im „Brain“ nur mit erklärenden Texten vertreten war.
Unsichtbar über Jahre und Jahrzehnte waren auch etliche Künstlerinnen – wie Hannah Ryggen, die wir mit ihren kämpferischen Bildteppichen kennen lernen, oder Maria Martens, deren surrealistische Skulpturen umwerfend sind. CCB verhalf ihnen nun als „modernist women“ zu ihrem Recht und stellte sie als wirkliche Neuentdeckungen vor.

XII. Sammlungen
Man kann zahlreiche thematische Linien durch die Ausstellung ziehen. Eine der wichtigsten ist die Auseinandersetzung mit der Sammlung, dem Museum und dem Archiv. Die beiden eindringlichsten Museums-Konstellationen hatten Haris Epaminonda und Daniel Gustav Cramer mit ihrer Museums-Simulation (im Nordflügel des Bahnhofs) sowie Kader Attia mit seiner Sammlung aus der Kolonialzeit (im Fridericianum) geschaffen. Aber auch die Bibliotheksräume von Michael Rakowitz und Emily Jacir, Fiona Halls Jagdhütte oder das Striptease-Museum von Ruth Robbins und Red Vaughan Tremmel sind hier zu nennen. Nicht zu vergessen das „Brain“ als die Sammlung aller Sammlungen.

XIII. Ästhetik

Keine andere documenta war so stark und primär durch inhaltliche Fragestellungen geprägt. Gleichwohl ließ CCB Raum für alle denkbaren Formen von Kunst. Das Schaffen begnadeter Laien (Konrad Zuses expressionistisch angelegte Malerei und Korbinian Aigners Apfelbilder) fand ebenso Platz wie das Werk professioneller Malerinnen (Julie Mehretus gewaltige Auseinandersetzung mit Architekturmotiven) oder jene Konzeptkunst eines Yan Lei, der das endgültige Aus jeder Malerei verkündete. Die inhaltlich schwergewichtigen Projekte überwogen.
Aber es konnten sich auch rein ästhetische Arbeiten behaupten – wie die minimalistischen Objekten und Farbspuren von Thea Djordjadze in einem Gewächshaus in der Karlsaue, die rein auf Wirkung angelegt waren.

August 2012, geschrieben für Anstöße (Ev. Akademie Hofgeismar)

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