Viel Raum und viel Zeit für die Kunst

Die documenta 12 und ihre Orte

Jede documenta erobert neue Räume. Die Regel gilt auch im Sommer 2007, wenn in Kassel die zwölfte Ausgabe dieser Weltkunstschau zu besichtigen ist. Für die 400 Werke von rund 100 Künstlern haben documenta-Leiter Roger M. Buergel sowie seine Frau und Co-Kuratorin Ruth Noack großzügige Ausstellungsflächen geschaffen, um den Arbeiten und den Besuchern viel Raum gegeben. Erstmals wurden Ruhe- und Diskussionsareale („Palmenhaine“) in der Ausstellung freigehalten, damit die Besuchergruppen Raum zur Besinnung und zum Austausch haben.

Der Schnelldurchgang ist verpönt. Die einstündige Führung gibt es nicht mehr. Wer sich führen lassen will, muss mindestens zwei Stunden buchen. Und in diesen zwei Stunden werden keinesfalls alle Stationen angesteuert. Wer von auswärts anreist, sollte mindestens zwei Tage vorsehen, denn es sind nicht nur vier opulente Gebäude im Stadtzentrum zu bewältigen (Museum Fridericianum, documenta-Halle, Neue Galerie und Aue-Pavillon), sondern es sind erstmals auch Schloss Wilhelmshöhe und der Bergpark als Ausstellungsorte hinzugekommen.

In einem Punkt bricht Buergel mit der documenta-Tradition: Der „white cube“ (weiße Würfel), der für die Kunst der Moderne prägend ist, wird weitgehend verlassen und die weißen Wände werden durch farbige ersetzt. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt im Stadtzentrum. Die vier Hauptstandorte zwischen Friedrichsplatz, Karlsaue und Schöner Aussicht liegen nur fünf bis zehn Gehminuten auseinander. Für den Besuch wird keine feste Abfolge empfohlen.

Aue-Pavillon: Ein 9500 Quadratmeter großer temporärer Bau auf der Karlswiese vor der Orangerie, Wer bei seinem Anblick an ein Gewächshaus denkt, liegt richtig, denn der Bau ist als Gegenstück zur Orangerie aus dem 18. Jahrhundert gedacht.
Der Besuch des Pavillons ist ein Muss, denn in ihm können Buergel und Noack ihr Konzept in der reinsten Form umsetzen: Im ersten Abschnitt findet man weitläufige Installationen, die nicht durch Stellwände begrenzt werden. So können die Kunstwerke direkt aufeinander bezogen werden. Im zweiten Abschnitt bilden diagonal in den Raum gestellte Wände Strukturen, die an einen Irrgarten erinnern lassen. Und zum Schluss knüpft die Ausstellung im Pavillon an den „white cube“ an, um ihn wieder aufzubrechen. Denn in diesem Teil öffnet sich der Pavillon um Parkgelände und zur Orangerie.
Im Aue-Pavillon wird sich erweisen, ob das Ausstellungs- und Vermittlungsprogramm von Roger Buergel aufgeht. Noch vor der Eröffnung kam es zum Streit zwischen der documenta-Leitung und den französischen Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, die ihre als neuzeitlichen Kristall-Palast gepriesenen Pavillon-Bau verunstaltet sehen. Denn Buergel und Noack folgten dem Rat der Restauratoren und dämmten den Lichteinfall durch eine Dachabdeckung und durch Seitenvorhänge und ließen Aggregate zur Klimatisierung aufstellen. Die Leichtigkeit der Gartenarchitektur ging dadurch verloren.

Museum Fridericianum: Der 1779 vollendete klassizistische Bau ist seit 1955 das Stammhaus der documenta. In dem Gebäude verblüffte Arnold Bode wiederholte Male mit seiner Inszenierungskunst. Daran will Roger Buergel anknüpfen. Das ist aber nicht leicht, weil das Fridericianum um 1980 durch seinen endgültigen Ausbau seinen Charme verlor. Als größter Verlust wurde der Abriss des zentralen Treppenhauses in der Rotunde beklagt. Die größte Überraschung der documenta 12 ist, dass es nun wieder einen zentralen Aufgang gibt. In barocker Manier führt sie erst mit einer Stufenfolge und nach der Kehre mit zwei geschwungenen Treppen nach oben.
Auch sonst hat das Haus seine Klarheit zurückerhalten: Alle Zwischeneinbauten wurden herausgenommen. Selbst da, wo Stellwände eingezogen wurden, bleibt immer die Dimension des Raumes sichtbar. Die Fensterfronten wurden komplett freigelegt und werden wie bei Bode mit transparenten Vorhängen bestückt.

Neue Galerie: Erstmals seit 1972 wird die Neue Galerie, die sonst als Museum für die Kunst seit 1750 benutzt wird, komplett als documenta-Ort zur Verfügung stehen. Ein anstehender Umbau macht das möglich. Das aus dem 19. Jahrhundert stammenden Gebäude bietet mit seiner Kabinettstruktur in den Gängen die engsten Räume. Buergel und Noack wollen das Museum als einen Standort für intime Kunst (Malerei und Fotografie) nutzen. Die Farbgebung ist heftig: Grün im Erdgeschoss, grelles Pink im 1. Stock. Alle Besucher werden das Gebäude neu erleben, weil der Haupteingang vor Kopf geschlossen und das Mittelportal auf der Aue-Seite geöffnet wird.

documenta-Halle: Ursprünglich konnte Buergel mit dem 1992 errichteten Bau an der Hangseite des Friedrichsplatzes nichts anfangen. Mittlerweile ist er von den Möglichkeiten des großen Saales begeistert und hat dort eine seiner wichtigsten Konfrontationen von Werken inszeniert. Die Halle wird in ihrem vorderen Bereich Kommunikationszentrum sein. Da ist das Pressezentrum zu finden, und dort werden jeden Tag um 12 Uhr Gruppen vor und mit Besuchern diskutieren – die Magazin-Redaktionen, die sich an dem Zeitschriften-Projekt der documenta beteiligen, und der documenta-Beirat, der sich rund um das Kasseler Kunlturzentrum Schlachthof bildete.

Schloss und Bergpark Wilhelmshöhe: Arnold Bode träumte davon, aber er konnte die documenta nie nach Wilhelmshöhe bringen. Buergel vollzieht den Schritt. Im Schloss, in der Gemäldegalerie, werden erstmals documenta-Werke ausgestellt, zeitgenössische, aber auch ältere. Außerdem werden im Bergpark fünf Außeninstallationen zu sehen sein. Beide, Gemäldegalerie und Bergpark, sind immer ein lohnendes Ziel. Die Kombination mit der documenta-Kunst erhöht den Reiz. Da Schloss und Bergpark oberhalb der Stadt liegen, bietet es sich für Auswärtige an, den Abstecher dorthin an den Anfang oder das Ende des Kassel-Besuchs zu legen.

Kulturzentrum Schlachthof: Zwei documenta-Beiträge sind rund um das Kulturzentrum in der Nordstadt (in Uni-Nähe) zu besichtigen.

Gloria: Das 50er-Jahre Kino am Ständeplatz ist documenta-Kino. Jeden Abend sind ab 20.30 Uhr Filme aus der Zeit von 1955 bis 2007 zu sehen.

&. 5. 2007

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