„una bomba granata“, jubelte der Frankfurter Künstler Thomas Bayrle (Jahrgang 1937), als er im Sommer 2010 die Einladung zur dOCUMENTA (13) erhielt. Ganz überraschend kam der Brief aus dem documenta-Büro jedoch nicht, denn Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) hatte Bayrle auch 2008 in die von ihr geleitete Sydney-Biennale geholt.
Allerdings war damals nicht voraussehbar, welche überragende Rolle CCB Bayrle in Kassel zuweisen würde: Der Künstler, der als einer der Hauptvertreter der deutschen Pop-art bekannt wurde, erhielt als erster allein den monumentalen Saal in der documenta-Halle. Nachdem seit 1992 dieser riesige Raum immer wieder als kaum bespielbar bezeichnet worden war, führte Bayrle der Kunstwelt vor, dass die Halle sehr wohl in den Griff zu bekommen sei. Ob von oben aus gesehen oder von unten betrachtet – der Raum funktioniert. Dabei werden zur großen Stütze die beiden gewaltigen Wandarbeiten („Flugzeug“ 13×8 Meter und „Carmageddon“ 8×25 Meter). Zugleich demonstriert Bayrle mit dieser Installation, wie er aus dem Prinzip des Seriellen neue Sichtweisen und Arbeiten entwickeln konnte.
Nun hat das Kuratorium der Arnold Bode-Stiftung, dem auch die documenta-Leiterin angehört, Bayrles großen Auftritt mit der Zuerkennung des Bode-Preises für 2012 gekrönt. Damit sind in der aktuellen documenta gleich zwei Bode-Preisträger präsent: Denn vor Bayrle wurde im vorigen Herbst die in London lebende Polin Goshka Macuga mit dem Bode-Preis ausgezeichnet. Es war das erste Mal, dass einer/m Künstler(in) der Preis vor einer documenta-Teilnahme vergeben wurde.
Der Arnold Bode-Preis will kein documenta-Preis sein, und deshalb lehnt das Kuratorium jeden Vergleich mit dem Goldenen Löwen, der in Venedig zur Biennale vergeben wird, ab. Tatsächlich aber sind die allermeisten Preis-Entscheidungen mit Blick auf die jeweiligen documenta-Beiträge vergeben worden. Das gilt für Mario Merz, Gerhard Richter, Wolfgang Laib und Thomas Schütte ebenso wie für Richard Hamilton oder Romuald Hazoumé.
Überblickt man die den Ausstellungsbetrieb der letzten Jahre, dann merkt man, dass Thomas Bayrle ein Comeback erlebt war. Denn es wurde klar, dass sich Bayrles Kunst nicht in der Lust am Alltäglichen und Seriellen erschöpft. Thomas Bayrle hat vielmehr zu ganz überraschenden neuen Antworten und Lösungen gefunden. Und indem er sich neue Wege erschloss, blieb er sich treu.
Seine aktuelle Installation in der documenta-Halle dokumentiert das beispielhaft. Zuerst ist da seine monumentale Fotocollage „Flugzeug“, die er 1984 in der von Kasper König organisierten Ausstellung „von hier aus“ präsentierte. Das Flugzeug-Bild, das sich aus 3780 gleichartigen kleinen Flugzeug-Bildern zusammensetzt (die wiederum laut CCB aus 4,3 Millionen winzigen Flugzeugen bestehen), hat der Dichter Franz Mon in dem „von hier aus“-Katalog sehr genau und einfühlsam beschrieben. Während die 3000 Einzelmotive, die den Hintergrund (Himmel) für das große Flugzeug ergeben, völlig identisch sind, verformen sich zahlreiche Einzelbilder, aus denen das Zentralmotiv komponiert ist. Thomas Bayrle hat die kleine Urform des Flugzeugs mit der Hand gezeichnet. Dann hat er aus der Zeichnung eine Druckform hergestellt und die benötigten Einzelbilder für den Flugzeug-Körper auf ein Gummituch gedruckt, mit dessen Hilfe jede beliebige Wölbung oder Rundung hergestellt werden konnte. Eine Schablone half dabei, für jede Form den richtigen Platz zu finden. Die so entstandene Struktur wurde fotografisch festgehalten.
Das „Flugzeug“ war für Bayrles Entwicklung insofern wegweisend, als der Künstler hier erstmals die kleinen Bilder so anordnete, dass sie gemeinsam das im Prinzip gleiche große Bild ergaben. Das schräg in den Raum gestellte Monumentalbild steht also nicht für eine Retrospektive, sondern für eine entscheidende Wende in Bayrles Schaffen.
Das an der Wand gegenüber hängende Bild „Carmageddon“ repräsentiert Bayrles aktuelles Werk. Der Titel ist einem Videosypiel entlehnt, das in den 90er Jahren aufkam und für teuflische Autorennen steht. Thomas Bayrle hat sich immer wieder mit den von Autobahnen beherrschten Stadtstrukturen beschäftigt. Er trieb diese Visionen gelegentlich so weit, dass am Ende von den Städten fast nur noch sich kreuzende Autobahnen übrig blieben. Mit Zeichnungen dieser Art war Bayrle 1977 in der Handzeichnungs-Abteilung der documenta 6 (1977) beteiligt.
Das für die dOCUMENTA (13) angefertigte Papprelief aus gleichartigen Strukturelementen markiert nun den Endpunkt der Vision: Die Straßen überkreuzen sich nicht mehr, die Verbindungen sind aufgelöst und damit ist alles zum Stillstand gekommen. Und hier kommt das teuflische „Carmageddon“ ins Spiel. Nichts geht mehr, die Welt des fließenden Verkehrs wird zu einem endlosen Stau oder einer Stadt, die ausschließlich aus Sackgassen besteht. Während die Filmbilder, die im Video-Raum hinter dem „Flugzeug“ zu sehen sind, von der ständigen Bewegung und Metamorphose leben, herrscht hier nun absolute Starre.
Technik und Bewegung, Mobilität und Stillstand, Flugzeuge und Autos sind das große Thema der Kasseler Installation. Registriert man diese übergreifende Thematik, dann passen die in jüngster Zeit entstandenen Objekte aus aufgeschnittenen Motoren und mit angebauten Klanginstallationen, die im ersten Moment wie fremd wirken, wunderbar in diesen Raum. Zuerst einmal fasziniert die Klarheit und Schönheit der aufgeschnittenen Motoren und ihrer vieldeutigen Dynamik. Und dann gewinnen diese rein technisch scheinenden Objekte eine geistige Dimension: Die Motorengeräusche sind unterlegt mit Gebeten und liturgischen Gesängen aus Messen.
Viele Assoziationen stellen sich ein:
Das Rundlaufen der Motoren gleicht dem Singsang der Rosenkranzgebete. Stehen wir vor Gebetsmühlen oder Sinnbildern der Erotik, wie einige meinen?
Oder werden wir vielmehr daran erinnert, dass wir die Motoren anbeten und dass wir förmlich auf die Knie fallen, wenn wir die Motoren sehen und pflegen, die uns auf der Straße und in der Luft voran bringen? Schließlich drehen sich Bayrles Projekte seit langem um die Mobilität, die Systeme der Plätze, Straßen, Autobahnen und Luftlinien. Insofern passt in der documenta-Halle alles zusammen.
In Interviews hat Bayrle mehrfach versichert, dass er die Kirchengebete und -gesänge nicht diffamieren wolle. Nein, gegen die Kirche sind die Arbeiten am wenigsten gerichtet. Auch wenn er die Liturgie in neue Bezüge stellt. Wo wir Unterschiede und Gegensätze sehen, erkennt er Gemeinsamkeiten: Die Schönheit der Technik, die in den aufgeschnittenen Motoren ebenso hervortritt wie in der Formensprache der gotischen Kathedralen. Hier fällt das ora et labora (bete und arbeite) wieder zusammen. Die Gotik, so sieht es Bayrle ist aber auch der Beginn der Arbeitsteilung, für die wiederum die Motoren die Musterbeispiele sind.
Noch etwas ganz anderes kommt hinzu: Für Bayrle sind die Motoren auch Klangmaschinen. Als er vor mehr als vier Jahrzehnten in einer Weberei arbeitete, habe ihn eines Tages die Vorstellung gepackt, aus den Maschinen kämen neben den Laufgeräuschen unerkannte Gesänge. Die Maschinenwelt ist voller Musik. Jetzt endlich fand er Gelegenheit, diese Vorstellung umzusetzen. Und wie die Rosenkranzgebete und anderen Gesänge sich in dem immer gleichen Rhythmus wiederholen, so produzieren die Maschinen die sich ewig wiederholenden Geräusche. Technik und Meditation verbinden sich und verschmelzen. Das Sakrale wird zum Säkularen, und im Säkularen entfaltet sich das Sakrale.
21. 8. 2012
Der Arnold-Bode-Preis wurde Thomas Bayrle am 14. September in der documenta-Halle überreicht. Die Laudatio hielt Carolyn Christov-Bakargiev.
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