„Menschenräume“ von Rolf Escher im Gut Altenkamp

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
es passiert nicht oft, dass das Faltblatt zu einer Ausstellung mit so zahlreichen Werkbeispielen illustriert ist, auf dass Sie sich schon Tage vor der Eröffnung mit der Bilderwelt des ausstellenden Künstlers, Rolf Escher, vertraut machen konnten. Die sieben Motive spiegeln die Vielfalt in Eschers Schaffen genauso gut wie seine Geradlinigkeit und Konsequenz. Ich habe schon mehrfach die Gelegenheit gehabt, zu einer Ausstellung von Rolf Escher zu sprechen. Aber noch nie bin ich in die Verlegenheit geraten, mich wiederholen zu müssen, da der Zeichner und Grafiker Escher immer neue Sichtweisen eröffnet oder plötzlich einzelne Aspekte seiner Zeichenkunst hervortreten lässt, die immer schon angelegt waren, aber nicht die notwendige Aufmerksamkeit gefunden hatten.
Nehmen wir die Farbigkeit. Nur eines der in der Einladung reproduzierten Bilder ist schwarz-weiß. Alle anderen Blätter sind so prägnant farbig, dass man geneigt ist, die Aquarelle eher in der Nachbarschaft zur Malerei als zur Zeichnung anzusiedeln. Das sah vor rund 20 Jahren völlig anders aus. Da überwogen eindeutig die schwarz-weiß ausgeführten Bleistiftzeichnungen. Gleichwohl waren auch damals die Ansätze zur Farbigkeit untergründig angelegt. Das hat auch sicherlich damit zu tun, dass Escher als Zeichner stets auch Grafiker war. Durch die Technik der Radierung war der Künstler gewohnt, etwa die leeren Wände in Räumen tonig eizufärben. Mit Hilfe von unterschiedlich akzentuierten Schraffuren schuf er Flächen, die eine Tendenz zur Farbigkeit enthielten, ohne die Farben zu benutzen. Doch es kam noch ein anderes Element hinzu: Bei der Wahl der Papiersorten ging Escher sehr gezielt vor, so dass er mal auf weißem Zeichenkarten, mal auf gelblich getöntem oder mal auf grünlichem Papier mit dem Bleistift arbeitete. Die Farbe war damit zum Grundbestandteil der Arbeiten geworden. Dementsprechend unterscheidet das 1986 erstellte Werkverzeichnis der Zeichnungen ganz genau jeweils zwischen weißen und farbig getönten Papieren.
Rolf Escher begann in den 80er-Jahren, die Farbe offensiver einzusetzen und erst mit Farbstiften und dann mit Aquarell die Räume der Zeichnung zu erweitern. Allerdings war es ein weiter Weg bis zu der starken Farbigkeit, wie sie in einigen Blättern zu beobachten ist.
Die erste Frage, die sich stellt, lautet: Werden die Zeichnungen durch den Einsatz von Tusche und Aquarell wirklicher, da ja die Welt, die in den Bildern gespiegelt wird, ebenfalls farbig ist?
Meine Antwort lautet: Nein. Zur Begründung möchte ich Sie auf ein Blatt verweisen, das aus dem Skizzenbuch „In Venedig gezeichnet“ stammt und das in dem Faltblatt zur Ausstellung reproduziert ist. Es zeigt in der Seitenansicht den Eingang zum Arsenal(e), dem venezianischen Hauptquartier der Marine. Unwillkürlich werden die Blicke von dem rötlich-braunen Gitter, dessen Tor weit geöffnet ist, angezogen. Mit seinen in die Höhe weisenden Spitzen wirkt das Gitter äußerst präsent und bedrohlich. Zwar ist das dahinter stehende Gebäude auch farbig gestaltet, doch der Bau tritt eindeutig in den Hintergrund. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass vorne rechts eine weiße Statue und links hinten ein monumentaler weißer Löwe das Gittertor einrahmen. Im Vordergrund scheint sich die Farbigkeit ganz zu verlieren. Lediglich auf dem hellen Boden sind die Schattenzonen mit einem flüchtigen Blau überzogen.
Das heißt: Der Zeichner zeigt nicht die fotografische Ansicht, sondern formt die Welt nach seinem Bilde. Er holt aus der Eingangszone des Arsenals, in der so viele Figuren und Statuen zu bewundern sind, das Gitter heraus und gibt ihm eine überragende Bedeutung. Die Farbe macht diesen Ausschnitt aus der venezianischen Welt nicht wirklicher, sondern sie deutet sie im Sínne des Künstlers um. Rolf Escher hat das, was er gesehen und in seinem Skizzenbuch notiert hat, zum Vorwand für ein ganz anderes Bild genommen – im Vergleich zu dem, was er gesehen hat. So ist in Wahrheit das Gitter schwarz.
In der Ausstellung sehen Sie noch ein zweites Motiv vom Arsenal(e) in Venedig. Dieses Mal ist das Portal frontal dargestellt. Die Farben halten sich relativ treu an die Wirklichkeit. Das Gitter bleibt also in diesem Fall schwarz. Und doch eröffnet uns der Zeichner einen völlig neuen Blick, weil er uns die Szenerie unmittelbar nach einem Regen zeigt: Die Spiegelung der Architektur samt ihrer Farben im hellen Boden lässt im unteren Bereich ein zweites Bild entstehen, das das eigentliche Motiv übertrumpft und mit Bewegung erfüllt.
Lassen Sie uns noch für einen Moment bei der Farbe bleiben: 2010 hat Rolf Escher in der Reihe seiner Venedig-Ansichten eine aquarellierte Zeichnung geschaffen, die die Kuppeln von St. Marco aus der Vogelperspektive, vom Campanile aus, in der Abenddämmerung zeigen. Im Vordergrund sehen wir das Dach des Markusdomes mit den fünf faszinierenden Kuppeln und einen winzigen Stück der Fassade am rechten unteren Rand. Die dicht gedrängten Häuser, die hinter dem Dom angedeutet sind verschwinden nahezu unter dem Abendrot, das auch auf die grauen Kuppeln abstrahlt. Gesteigert wird die Wirkung der sich über das Häusermeer erstreckenden Farbdecke durch die zartblauen Schattenzonen im vorderen Teil und durch den tiefblauen Streifen der am oberen Bildrand das Abendrot abschließt.
So haben die meisten von uns Venedig noch nicht gesehen. Rolf Eschers intensiver Einsatz der Farbe verstärkt die Töne der Abendstimmung so sehr, dass die Wirklichkeit zugespitzt und ins Überwirkliche gehoben wird. Damit löst sich das Aquarell aus der Bindung an die Wirklichkeit und damit aus der Pflicht, die Realität zu spiegeln. Wichtiger als die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Abbild wird in dem Aquarell aufgebaute Spannung zwischen den Flächen mit ihren Rot- und Blautönen.
Ähnliches gilt für das 2008 geschaffene Blatt „Palast der Republik im Abriss“. Die Fassaden sind längst verschwunden. Wir sehen links und rechts nur noch Teile der tragenden Wände und darüber die Reihen der Stahlträger, die das Dach gehalten haben. Dominiert wird das Aquarell durch die dunklen Blautöne des Himmels in der Mitte und am oberen Rand sowie durch die rötlichen, gelblichen und weißen Töne am und vor dem Bauwerk. Es ist, als entstünde im Zentrum ein Bild im Bild, eine massive blaue Fläche, die die darunter stehende rötlich-weiße Friedrichwerdersche Kirche von Schinkel noch filigraner erscheinen lässt.
Der bereits aufgerissene Palast der Republik wird zum Fenster, das den Blick auf den Berliner Klassizismus freigibt. Für mich klingt in dem Bild noch eine andere Thematik an, die für Rolf Eschers Werk kennzeichnend ist – die Welt des Theaters. Denn unwillkürlich sehe ich in den Wänden und in der offenen Dachkonstruktion nicht nur einen Rahmen, sondern einen gestaffelten Bühnenaufbau. Wir blicken auf eine Theaterbühne, zu deren Kulisse die Schinkelsche Kirche wird. Rolf Escher hat oft und gern in Theatern gezeichnet und die leeren Ränge und wuchernden Formen erzählen lassen. Daneben hat er zahlreiche Bilder gestaltet, die vordergründig nichts mit dem Theater zu tun haben, in denen sich aber Räume, Plätze und Treppenhäuser förmlich in Bühnen verwandelt haben. Oft sind die Akteure verschwunden und haben nur einzelne Gegenstände zurückgelassen. Doch manchmal erwachen die Räume zum Leben und füllen sich mit Gestalten.
In dem historistischen Festsaal von „Clärchens Ballhaus“ in Berlin etwa wird die Szenerie von der formenreichen Architektur beherrscht, die durch die großen Wandspiegel andeutungsweise verdoppelt wird. An der hinteren Wand sind Stühle zusammengestellt. Es sieht nach einem überhasteten Aufbruch aus, denn einige Stühle sind unordentlich gestapelt. Zudem steht ein Stuhl so da, als sei er bis eben benutzt worden. Die Bühne ist noch da, aber die Menschen, die hier spielten oder tanzten, sind gegangen.
Ganz anders verhält es sich in der Komposition mit den Markisen am Markusplatz in Venedig. Wir blicken auf die Arkaden, von denen die beiden mittleren durch die Sonnenschutz-Vorhänge geschlossen sind. Die Vorhänge werden zur Bühnenkulisse, vor und neben der sechs Figuren agieren. Die Menschen sind flüchtige Gestalten, die Teil einer Inszenierung werden. Noch krasser und dramatischer wird das Spiel in dem Aquarell „Nachspiel in Venedig“, in dem unter einem zu zwei Dritteln heruntergelassenem Vorhang eine historische Maskerade zu beobachten ist. Das heutige Venedig verwandelt sich zu einem Ort, an dem die Vergangenheit lebendig wird. Der lange Gang der Geschichte verkürzt sich zu einem einzigen Erlebnisraum.
Ihren Höhepunkt erreicht diese Verwandlungskunst, in dem Bild vom Markgräflichen Hoftheater in Bayreuth, in dem die Bühne unwichtig geworden ist, weil die Akteure zugleich die Zuschauer in historischen Kostümen sind. Allerdings entpuppt sich die bunte und anscheinend fröhliche Versammlung als das Personal eines Totentanzes. Wir sehen auf maskierte Gestalten mit leeren Augenhöhlen und Totenköpfen.
Diese Ausstellung, die einen breiten Einblick in das Schaffen von Rolf Escher gibt, dokumentiert, wie sich dieser Zeichner und Grafiker die Welt erobert hat. In Venedig hat er, wie erläutert, die Postkartenansichten weggewischt, er hat in ehrwürdigen Bibliotheken wenig bekannte Schätze gehoben, er ist auf den Spuren Friedrichs des Großen und Fontanes gewandert und er hat zwischen Paris und Istanbul auf den Plätzen und in den Straßenschluchten die Zeichen der Alterung und des Verfalls studiert. Auf seinenReisen ist er über den Niederrhein bis in diese norddeutsche Region vorgedrungen. Besonders herausgefordert hat ihn fast überall vordringlich die figurenreiche und durch viele geschwungene Formen geprägte Architektur des Barock und Rokoko.
Deshalb fand Rolf Escher auch reichlich Stoff für seine Arbeit im Gut Altenkamp. Die üppige Malerei des Hauses animierte ihn die Zeit des Rokoko zu verlebendigen. Also komponierte er eine idyllische Landschaft –mit Anklängen an Watteau –, in die er die in der Malerei dargestellten Musikanten versetzte und somit den Geist der Zeit als Teil unserer Gegenwart beschwor.

2. 9. 2012

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