Die documenta 13 ist mit Künstlern aus 55 Ländern so global wie keine zuvor. Noch nie sind so viele Arbeiten eigens für Kassel entstanden. Noch nie ist die Karls-aue so umfangreich einbezogen worden. Diese documenta nimmt in der Reihe der Ausstellungen seit 1955 einen der wichtigsten Plätze ein, ist Dirk Schwarze überzeugt. Er ist als langjähriger Leiter des Kulturressorts der HNA einer der besten Kenner der documenta-Geschichte.
Hat ein Leiter je der documenta so stark seinen Stempel aufgedrückt, sie mit seiner Person so geprägt wie Carolyn Christov-Bakargiev?
Dirk Schwarze: Da ist sie ganz nah bei Arnold Bode, der die documenta 1955 gegründet hat. Vielleicht hat sie ihn übertroffen. Bodes Erfolg beruhte wesentlich darauf, dass nicht bloß Bilder und Objekte vorgestellt wurden, sondern die Werke in eine spürbare Gestaltung einbezogen wurden, dass man später von Inszenierung sprach. Das hat CCB gesteigert, indem sie das fast leere Erdgeschoss im Fridericianum mit dem dicht gedrängten Brain konfrontiert, in dem sie zudem Dinge zeigt, die sie als Kuratorin ausgewählt hat.
Es gibt die Kritik, dass sich die Künstler ihrem Konzept beugen mussten, dass diejenigen, die nicht brav ablieferten, was erwartet wurde, keine Chance hatten.
Schwarze: Der Vorwurf liegt nahe, aber ich glaube, er trifft nicht. Vor allem nicht bei den prägenden Künstlern. Nehmen wir Goshka Macuga. Sie ist sicherlich nicht gezwungen worden, sich mit Afghanistan zu beschäftigen. Ich sehe keine Bevormundung, sondern eine intensive Zusammenarbeit mit der Kuratorin. Auch dafür gibt es Vorbilder – wie die drei Bilder, die Ernst Wilhelm Nay für Bodes documenta III gemalt hat und die schräg unter die Decke gehängt wurden. Das war praktisch ein Gemeinschaftswerk von Künstler und Kurator.
Kritisiert wird auch die Erweiterung des Kunstbegriffs. Wenn alles Kunst ist, so der Vorwurf, auch Hunde und Pflanzen, ist am Ende nichts mehr Kunst.
Schwarze: Wir leben nun schon seit 40 Jahren mit der Erweiterung des Kunstbegriffs. Seit 1972 entziehen sich Künstler mehr und mehr der Umklammerung, die normalerweise auf dem Kunstmarkt stattfindet. Gerade Joseph Beuys hat das vorexerziert und gezeigt, dass das Entscheidende ist, dass Kunst in einer solchen Ausstellung den Freiheitsraum erhält, Dinge zu machen, die sonst nicht funktionieren. Beispielsweise ist Amy Balkins Initiative, die Erdatmosphäre auf die Welterbeliste zu setzen, nur im Rahmen der Kunstausstellung möglich.
Die documenta spielt mit dem Prinzip der Überforderung. Man kann sie kaum in Gänze wahrnehmen.
Schwarze: Das stimmt, was die Quantität angeht, wie auch ihren Charakter. Es gibt viele Beiträge, die nicht interpretiert, sondern zu denen Geschichten erzählt werden müssen. Wie bei den Fotografien von Lee Miller und den Dingen aus Hitlers Badezimmer. Wer da nicht das Begleitbuch liest oder sich anderweitig vorbereitet, ist hoffnungslos alleingelassen.
Wo hat diese documenta Schwächen?
Schwarze: Um das Konzept zu verstehen, muss ich wirklich alles gesehen haben. Den wenigsten Besuchern wird klar, dass CCB ihre Ausstellung so angelegt hat, dass sämtliche im Moment denkbaren künstlerischen Haltungen zu Wort kommen: von der rein ästhetischen Präsentation in einem Glashaus bis zur hochpolitischen oder gar nicht künstlerisch angelegten Arbeit.
Die d13 hat viele Themen. Wo ist der Umgang mit ihnen besonders gut geglückt?
Schwarze: Es gibt Nahtstellen, wo Kunst, Kunsthandwerk und Wissenschaft besonders gut zusammenkommen. Das für mich wichtigste Beispiel ist die Uhr von Anri Sala in der Karlsaue, die sich auf ein Gemälde in der Orangerie bezieht. Da tragen die verschiedenen Sparten zu einem produktiven, überraschend guten Ergebnis bei.
Wichtig sind raumbezogene Installationen. In welchen Medien sehen Sie eine Stärke?
Schwarze: Die größten Überraschungen bieten für mich Künstler, die sich mit neuen Dimensionen der Videokunst beschäftigen: William Kentridge, Nalini Malini und Joan Jonas. Da merkt man, dass darin noch Potenzial steckt.
Die d13 hat einen ausgeprägten moralisch-ethischen Appellcharakter an den Einzelnen.
Schwarze: CCB hat viele aktuelle Probleme aufgegriffen. Umso mehr erstaunt mich, dass manche Themen gar nicht diskutiert werden.
Woran denken Sie da?
Schwarze: Zum Beispiel an die Initiative von Amy Balkin. Man könnte gut behaupten: Das ist eine verrückte Idee. Man könnte auch fragen: Warum bemühen wir uns nicht ernsthaft darum? Eine solche Diskussion gibt es aber nicht.
Man hat sich auch achselzuckend ans Occupy-Camp gewöhnt. Als documenta-Folklore.
Schwarze: Oder wenn ich an die Arbeit von Aníbal López in der Neuen Galerie denke, auf dessen Einladung ein Auftragskiller zur Diskussion nach Kassel gekommen ist. Das hätte einen Aufschrei geben müssen: Warum ist so was möglich, warum geht das an der Polizei vorbei, wie stehen wir dazu? Das ist eingefädelt worden, um die Lebenszustände in Guatemala öffentlich zu erörtern. Nur: Das findet nicht statt.
Welche Arbeit würden Sie für Kassel kaufen?
Schwarze: Den Kentridge-Raum. Für mich die wichtigste und schönste Arbeit.
Was wird von dieser documenta bleiben?
Schwarze: Die Erweiterung des Dialogs über den engen Kunstrahmen hinaus, die seit Catherine Davids documenta X in Gange und jetzt verstärkt worden ist, wird von Bedeutung bleiben. Die documenta hat nur überlebt, weil sie den Rahmen der strengen Kunstausstellung längst gesprengt und hinter sich gelassen hat.
Von Mark-Christian von Busse 7. 9. 2012