Wo beginnt die Moderne?

Lehmbruck und Beuys in der umgebauten Neuen Galerie, Dezember 2011 bis Ende März 2012

Die 1976 eröffnete Neue Galerie in Kassel ist unfreiwillig ein Museum auf Zeit. Denn immer wieder wird dieses Museumsgebäude, in dem die staatlichen Sammlungen der Museumslandschaft Hessen Kassel (mhk) sowie die städtischen Bestände des 19. Und 20. Jahrhunderts vereint sind, von der alle fünf Jahre stattfindenden documenta in Anspruch genommen. Mal muss das ganze Haus leer geräumt werden, wie zuletzt 2007, als Roger Buergel und Ruth Noack das Haus mit farbigen Räumen und einer anderen Eingangssituation neu zu interpretieren suchten, und mal müssen nur Teile der Sammlung weichen – wie bei der kommenden dOCUMENTA (13).
Die Museumsleitung sieht das mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Lachend, weil das in der Vergangenheit nur schwach besuchte Museum durch die documenta jeweils einen Wahrnehmungsschub erhielt, und weinend, weil eben dann, wenn die internationale Kunstwelt auf Kassel schaut, die Sammlung der Neuen Galerie gar nicht oder nur bruchstückhaft präsent ist.
Das 1871 bis 1877 errichtete Galeriegebäude, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und in den 60er- und 70er-Jahren wieder aufgebaut wurde, bedurfte einer dringenden Generalüberholung. Deshalb entschied man sich, die Neue Galerie 2006 zu schließen, für die documenta 12 frei zu räumen und um sie dann im Zuge eines großen Erneuerungsplans für die mhk um- und auszubauen. Den Wettbewerb entschied das Berliner Büro Staab Architekten für sich, das der Neuen Galerie zu einem großzügigen und Licht durchfluteten Inneren verhalf. Das Gebäude hat insgesamt gewonnen, wenn auch nicht nachvollziehbar ist, dass die beiden Galeriegänge zur Parkseite (Karlsaue) als Ausstellungsflächen nahezu leer bleiben. Die Kostendeckelung verhinderte, dass das Museum einen Ergänzungsbau für die wachsende Sammlung beziehungsweise für größere Sonderausstellungen erhielt.
Der Umbau und die Neueinrichtung der Neuen Galerie ernteten viel Lob. Es war aber nicht zu überhören, dass es im Hintergrund in Kassel einen grundsätzlichen Streit über die Neuausrichtung des Museums gab. Denn ursprünglich war das Land Hessen bei der Vorlage des Museumsplanes für Kassel mit dem Versprechen angetreten, die Neue Galerie zu einem Haus der Moderne umzuwandeln, in dem die Kunst des 20. Und 21. Jahrhunderts – mit dem Schwerpunkt Werke der documenta – Platz finden sollte. Der 2009 zwischen dem Land und der Staat neu geschlossene Vertrag legte denn auch fest, dass in der Neuen Galerie „eine Sammlung für zeitgenössische Kunst“ präsentiert werden sollte.
Doch es kam anders. Zwar entschieden sich mhk-Direktor Prof. Bernd Küster und Abteilungsleiterin Marianne Heinz, die Werke des 18. Jahrhunderts mit den Gemälden der Tischbeinfamilie der Gemäldegalerie Alte Meister zuzuweisen, doch beharrten sie darauf, den Rundgang mit dem 19. Jahrhundert zu beginnen, um damit, wie sie meinen, die Basis der Moderne vorzuführen. Und dementsprechend erhielt die wieder eröffnete Neue Galerie den Untertitel „Sammlung der Moderne“. Damit ist der Name erst einmal belegt, inhaltlich aber unzureichend ausgefüllt, zumal die Bestände des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erkennen lassen, dass es damals keine systematische Sammlungstätigkeit gab und dass mehrere Stilepochen nur durch Werke von regionaler, bestenfalls nationaler Bedeutung vorgestellt werden. Die Entscheidung für das 19. Jahrhundert hat zur Folge, dass ausreichender Raum für die Ankäufe und Schenkungen aus der documenta fehlt. Ein Neuanfang wurde verpasst. Die Neue Galerie ist ein traditionelles Gemäldemuseum geblieben – von der Romantik bis zur üppig präsentierten konkreten Malerei. Immerhin besteht eine zweite Chance: Die Ende November 2011 wieder eröffnete Galerie muss Ende März im Untergeschoss und im ersten Stock für die kommende documenta geräumt werden. Das heißt, dass im Herbst die vom Kunstmuseum Basel kommende Dorothee Gerkens, die Nachfolgerin der in den Ruhestand wechselnden Marianne Heinz wird, neu disponieren kann.
Erst anlässlich der documenta 7 (1982) besannen sich die Träger der neuen Galerie darauf, regelmäßig Werke aus der documenta mit Hilfe von Sondermitteln anzukaufen. Das geschah 1982 umfangreich und programmatisch im Sinn der Ausstellung, weil in ihr der Schwerpunkt die Malerei war. Doch 15 Jahre später, als in Catherine Davids documenta X die Malerei nur eine marginale Rolle spielten, wurden Gemälde von documenta-Künstlern angekauft, die aber in der aktuellen Ausstellung gar nicht vertreten waren.
Das Zentrum der zeitgenössischen Abteilung bildet unumstritten der Beuys-Raum mit der Installation „Das Rudel“ (The Pack), Vitrinen, Zeichnungen und Objekten. Der von Joseph Beuys ursprünglich selbst eingerichtete Raum gehörte zur Sammlung Herbig und wurde Anfang der 90er-Jahre für 16 Millionen Mark angekauft. Anlässlich der Wiedereröffnung richtete Marianne Heinz im Vorraum zu der Beuys-Installation eine kleine, aber feine Sonderausstellung ein, die fünf Zeichnungen und vier Plastiken von Wilhelm Lehmbruck sowie fünf Zeichnungen von Joseph Beuys konfrontiert. Unmittelbar vor seinem Tod hatte Beuys sich bei der Entgegennahme des Lehmbruck-Preises zu dem expressionistischen Bildhauer als seinem Vorbild bekannt. Vor sieben Jahren belegte diese geistige Nähe zwischen den beiden Künstlern die Frankfurter Kunsthalle Schirn, als sie Auguste Rodin und Joseph Beuys in Beziehung setzte und dabei Lehmbruck als Brücke dazwischen schaltete.
Nun sind Lehmbrucks Zeichnungen eher Studien, wohingegen Beuys‘ Zeichnungen eigenständige Werke sind. Bei Beuys spürt man unmittelbar, dass seine Figurenbilder ins Geistige zielen. Sie sind expressionistisch gedehnt und deuten Wesenszustände an, die auch noch jenseits der Zeichnungen Wirkung entfalten. Man versteht diese verinnerlichten Umgang mit der Zeichnung noch besser, wenn man in die Ausstellung einige Zeichnungen – wie die „Taucherinnen“ oder „Frauen auf Fett-Schwefel-blöcken“ – aus dem Beuys-Raum einbezieht.
Die formale Verwandtschaft zwischen Lehmbruck und Beuys ist in den Zeichnungen nicht so groß wie bei einigen aquarellierten Blättern von Rodin und Beuys. Doch es entwickelt sich eine frappierende Beziehung zwischen den Beuysschen Zeichnungen der 50er-Jahre und Lehmbrucks plastischem Spätwerk, hier repräsentiert durch den „Kopf eines Denkers“. Dieser auf sich selbst konzentrierte Denker, der auf sein Inneres horcht, lässt mit der Gestalt seines übergroßen und überlangen Kopfes alle anatomischen Gesetzmäßigkeiten hinter sich. Aus dieser Büste spricht genau die aufs Geistige ausgerichtete Haltung, die Joseph Beuys in zahlreichen Zeichnungen erkennen lässt. Die Neue Galerie gewinnt durch diese kleine Schau, weil insbesondere die Lehmbruckschen Arbeiten eine schmerzliche Lücke im Bestand füllt.

5. 2. 2012

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