Menschen als Opfer

Vom Fußboden aus erstreckt sich hoch über die Wand ein langgezogenes eisernes Trapez. Am unteren Ende hockt eine schmale, durchlöcherte Gipsfigur, das Gesicht weltabgewandt in die Hände gelegt; oben im Trapez hockt eine gleichartige Figur, die ebenfalls aus Trauer oder Schrecken nur nach innen zu schauen scheint. Die beiden Figuren sind aufeinander bezogen, sie könnten etwas miteinander in Gang bringen, aber sie bilden ein „Trapez des Schweigens“, kraftlos und aussichtslos.
Ein Schlüsseiwerk der aus Kassel stammenden und in Frankfurt lebenden Bildhauerin E.R. Nele, die im Künstlerhaus Göttingen, Gotmarstraße 1, bis zum 5. Juni einen Uberblick über ihr Schaffen in jüngster Zeit gibt. In immer neuen Anläufen gibt sie den Bedrohungen, Verfolgungen und Leiden des Menschen Ausdruck. Der Mensch hat längst sein Gesicht, seine Individualität, verloren, er ist zum bloßen Schattenriß, zur leeren Hülle geworden. Gebückt, gebeugt oder die Hände zum Himmel reckend ist die menschliche Figur ist nur noch Ausdruck der Verzweiflung.

Zu einem expressionistischen Bilderfries verdichten sich die Figuren der Kleinplastik „Appell“. Sie bilden einen Opferzug aus fallenden und klagenden Menschen, der zum Sinnbild des massenhaften Leidens in unserem Zeitalter wird. Zugleich sind diese Skulpturen (aus Eisenguß oder Bronze) eindrucksvolle Bewegungsstudien. Denn immer gehört auch das formale, das spielerische Element zum Werk Neles.

Wenn sie in früheren Jahren ihre körperlosen Mantelliguren in den Raum stellte, dann wollte sie auch auf heitere Weise die Phantasie beflügeln. Eine Versammlung von blauen Umrißfiguren in der Göttinger Ausstellung knüpft daran an, denn diese schematischen Gestaltprofile aus Metall beschwören nichts anderes als die Fülle von Bewegungen und Haltungen.

In Göttingen stellt sich E. R. Nele als äußerst vielseitige Künstierin vor. Für sie geht es um den Menschen. An ihm nimmt sie MaB, in ihm spiegelt sie das Leben. Dies gelingt ihr selbst dort, wo sie die menschliche Gestalt auf die Profillinie reduziert und sie in eine Gitterwand einbindet. In der Kombination einer solchen Eisenplastik mit großformatigen Zeichnungen ist eine der schönsten Arbeiten entstanden: Eine rechtwinklig aufgestellte Gitterwand projiziert, wie es scheint, das Figurenbild, das sie in sich trägt, gleich doppelt in die dahinter hängenden Zeichnungen.

1988

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