Durch die Kunst überwältigt

Heute vor 50 Jahren wurde in Kassel die erste documenta eröffnet – Beginn einer Erfolgsgeschichte

Unmittelbar nach der Sommerpause, am 1. Sep¬tember, beginnt in der Kasse¬ler Kunsthalle Fridericianum eine Ausstellung, die die Geschichte einer Ausstellung zum Gegenstand hat. Es geht um den unvergleichlichen Erfolg der documenta. Heute vor 50 Jahren wurde die erste Ausgabe der Ausstellung eröffnet.

Aber Ausstellungen können nur Geschichte machen, wenn hinter ihnen wild entschlossene, von der Kunst besessene Menschen stehen. Der Maler, Ausstellungsgestalter, Kunstprofessor und Ideenproduzent Arnold Bode (1900-1977) war so ein Mensch. Den Verantwortlichen der Stadt war er zeitweise unheimlich, weil er sich nie mit dem Erreichten zufrieden gab, sondern sich sofort auf das nächste Projekt stürzte.

Bode muss elektrisiert gewesen sein, als er von seinem Freund und Kollegen Prof. Hermann Mattem hörte, dass parallel zur Bundesgartenschau eine Kunstausstellung gezeigt werden solle. Hatte er nicht seit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten (1933) und dann seit dem Kriegsende von einer solchen Möglichkeit geträumt? Schließlich hatte er doch in den 20er-Jahren mehrfach an Ausstellungen in der Kasseler Orangerie mitgewirkt, in der die deutschen Pioniere der Moderne (Baumeister, Heckel, Klee, Nay, Schlemmer u.a.) zu sehen waren, deren Werke auch zur ersten documenta gehörten.

Zur Geschichte der docu¬menta gehört die Behauptung, die Organisatoren, allen voran Bode und der Kunsthistoriker Werner Haftmann, hätten die Kunst zeigen wollen, die von den Nationalsozialisten als entartet verfemt und über 20 Jahre in Deutschland nicht zu sehen war. Aber vom Ursprung her hatte Bode etwas anderes vor, wie in den ersten Konzeptpapieren zu lesen ist: „Die Ausstellung sollte nur Meister zeigen, deren Bedeutung für die Gegenwart nach strengster Auswahl unbestreitbar ist.“ Das heißt: Bode ging es um die Hinführung zur aktuellen Kunst. Schließlich waren 40 Prozent der gezeigten Werke nach 1945 entstanden.

40 000 Besucher hatte man 1955 im immer noch vom Krieg gezeichneten Kassel er¬wartet. Doch es kamen über 130 000. Zeitweise musste das Fridericianum wegen Überfüllung geschlossen werden. Die Stadt und die Kunstwelt waren überwältigt. Vor allem auch deshalb, weil die documenta als eine Ausstellung der abendländischen Kunst des 20. Jahrhunderts nur als kulturelles Rahmenprogramm zur Bundesgartenschau kon¬zipiert worden war.

Ein kluger Kopf hatte aus¬gerechnet, dass man für den Besuch der documenta etwas über elf Stunden Besuchszeit brauche, wenn man jedem der 670 Kunstwerk eine Minute widmen wollte. Es waren Bil¬der und Skulpturen von 148 Künstlern, die schwerpunkt¬mäßig aus Deutschland, Frankreich, Italien, England und der Schweiz kamen. Die Amerikaner spielten 1955 nur eine Nebenrolle.

Bode und seine Mitstreiter hatten ursprünglich von einem Kulturfestival geträumt. Um die Ausstellung als Kern sollten Theater-, Konzert-, Film- und Ballettaufführungen organisiert werden. Ebenso sollte die Architektur im Stadtraum gewürdigt werden. Diese Idee wurde nur in winzigen Ansätzen realisiert. Aber später kamen die documenta-Macher immer wieder auf die Idee zurück. Am stärksten wurde das zur documenta X (1997) deutlich, als Catherine David ein üppiges Filmprogramm sowie die Veranstaltungsreihe „100 Tage – 100 Gäste“ anbot.

Die Jubiläumsausstellung „50 Jahre documenta“ findet vom 1. September bis 20. November im Kasseler Frideri¬cianum statt. Aus diesem An¬lass erscheint Ende August eine Beilage unserer Zeitung zur Geschichte der documenta.

Kommentar

Der Erfolg einer Idee

Gehofft hatte der Kunstprofessor Arnold Bode von Anfang an, dass sich seine Idee von einer großen Ausstellung alle vier Jahre verwirklichen ließe. Dass die Idee tatsächlich Bestand haben und man 50 Jahre später den Geburtstag der documenta feiern würde, hätte nicht der kühnste Optimist geglaubt. Ganz zu schweigen davon, dass sich heute Kassel offiziell documenta-Stadt nennen darf.
In den ersten 15 Jahren war es die Hartnäckigkeit Bodes, die das Projekt documenta nicht untergehen ließ. Dann aber hatte sich die Idee so verselbständigt, dass sie von anderen weitergetragen werden konnte. Dabei gründet ihr Erfolg darin, dass sich die Ausstellung fortlaufend veränderte. Es ist es zum Ritual geworden, dass Kassel alle fünf Jahre zum Kunst-Mekka wird. Die Stadt brauchte lange, um sich mit dem Ereignis zu versöhnen, das ihr zu Weltruhm verhalf. Aber im Herbst wird der documenta-Geburtstag mit einer Ausstellung gefeiert. Bode sei Dank.

HNA 15. 7. 2005

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