Die Umkehrung der Dinge

Zweite Folge Kuratorenwerkstatt

Nichts ist so absurd, dass es nicht tatsächlich auch passieren könnte: Kaum war die Fotografie zum Informations- und Dokumentationsmittel entwickelt worden, fanden Propagandisten Wege, um das Abbild der Wirklichkeit zu korrigieren und zu manipulieren. Berühmt sind die Fotofälschungen der Sowjets, die nachträglich Leo Trotzki (1879-1940) aus den Fotos tilgten, nachdem dieser zum Feind des Sowjetsystems erklärt worden war.

Jens Kloppmann, der 29 Jah¬re nach Trotzkis Tod geboren wurde, sinnt auf Rache an den sowjetischen Fotofälschern. In einer Bildserie führt er die Manipulateure vor, indem er nun historische Fotos zeigt, in die er Trotzki hinein montiert hat. Da taucht der Bolschewistenführer beim G8-Gipfel genauso auf wie bei einer Siegereh¬rung im Sport. In ähnlicher Weise arbeitet die Gruppe „Henry 8’s wives“, die von Altersheimbewohnern berühm¬te Fotos (Konferenz von Jalta) nachstellen ließ.

Kloppmann liebt es, mit prominenten Fotomotiven zu arbeiten: Willy Brandts Kniefall in Warschau und der beim Bau der Mauer über den Stacheldraht springende Soldat haben sich so stark in die Erinnerung eingebrannt, dass wir die Figuren auch als Umrisse erkennen. Koppelmann hat die Motive herausgelöst und sie in Sperrholzfiguren umgesetzt, die nun in einem Saal des Fridericianums unter der Decke einen zeithistorischen Bilderfries ergeben.

Auch Julien Maire verdinglicht vertraute Bildmotive: Mit Hilfe von LCD-Displays oder kleinen rotierenden Glasobjekten, die er in Projektoren eingebaut hat, gestaltet er Projektionen, die den Eindruck von Fotos erzeugen, in Wahreit aber nur die Erinnerung an die Fotografie beschwören.
Nach Solvej Helweg Ovesen stellt sich nun in der Kasseler Kunsthalle Fridericianum
Thomas Niemeyer als zweiter junger Kurator vor. Die Künstler, die er unter dem Titel „Die andere Seite“ versammelte, spielen mit den vertrauten Bildern und kehren häufig die Dinge um. Am radikalsten ge¬schieht das in Pia Maria Martins Animationsfilm, in dem sich das weggeworfene Oberteil eines geschlachteten Hähnchens aus dem Müllei¬mer befreit und sich selbst wieder zusammenflickt. Die Brutalität der Wirklichkeit verformt sich zur Absurdität.

Ein Horrorszenario hat Su¬sanne Kutter in ihrem Videofilm entwickelt: Ein liebevoll eingerichtetes, kleinbürgerliches Wohnzimmer läuft voll Wasser. Die Möbel beginnen zu schwimmen, die Einrichtungsgegenstände verselbständigen sich. Je länger man zuschaut, desto stärker weicht der Schrecken und desto größer wird das Interesse daran, wie die Dinge ihre Schwerkraft verlieren. Zuletzt, wenn der Wasserstand die Linse der Kamera erreicht hat, taucht auch der Betrachter in eine fast abstrakt wirkende Welt ein.
„5 Tage bis zum Ende der Kunst – Die andere Seite“, Kunsthalle Fridericianum, Kas¬sel.

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