Die Geschichte einer Ausstellung

Alfred Nemeczek kennt die documenta seit ihren Anfängen wie kein zweiter Kritiker. 1955, als die erste Ausstellung in Kassel gezeigt wurde, begann er gerade seine journalistische Arbeit in der Redaktion dieser Zeitung. Er war als Kunstkritiker Begleiter der Ausstellung, und hatte 1964 das Glück, als Pressesprecher die Ausstellungsorganisation von innen kennen zu lernen. Auch später, als Kritiker des „Stern“ und des Kunstmagazins „art“, blieb er aufs Engste der documenta verbunden.

Diese Nähe und die intime Kenntnis der frühen Akteure spürt man in dem kleinen Büchlein „documenta“ (Wissen 3000, Europäische Verlagsanstalt), das Nemeczek als einen Kurzführer durch die Ausstellungs-Ge¬schichte geschrieben hat. Vor allem die Kapitel über die 50er-und 60er-Jahre leben von dem anekdotischen Ansatz. Die Gestalt des documenta-Begründers Arnold Bode wird greifbar und lebendig.

Das Buch und sein Autor geben sich bescheiden. Nemeczek wendet sich an die Leser, die keine kunstwissenschaftliche Darstellung suchen, sondern eine kurze, persönlich gefärbte Hinführung zur documenta-Geschichte. Dabei skizziert er nicht nur die Entstehungsgeschichte,
sondern porträtiert auch die Macher, die Ausstellungsleiter, und bietet Kurzbeschreibungen der einzelnen Ausstellungen.

In der Annäherung an das Phänomen documenta geht er aber auch ungewöhnliche We¬ge. Beispielsweise addiert er die statistischen Zahlen und kommt zu dem Ergebnis, dass in
den documenten 1-10 insgesamt 10 140 Werke von 2552 Künstlern zu sehen waren und dass bis einschließlich 1997 rund 3,4 Millionen Besucher kamen. Auch riskiert der Autor ein persönliches Ranking – eine Rangliste der Ausstellungen von 1955 bis 1997. Bei Nemeczek rangiert die erste documenta ganz oben, dann folgen die Aussstellungen der Jahre 1972 und 1964. Das Schlusslicht bildet für ihn die documenta X.

Umfangreicher und komplexer ist Harald Kimpels Buch „documenta – Die Überschau“ (DuMont Verlag, Köln) angelegt. Der reich illustrierte Band stellt eine völlig überarbeitete und komprimierte Form des Buches „documenta. Mythos und Wirklichkeit“ dar, das Kimpel vor fünf Jahren veröffentlichte.

Textlich wurde stark abgespeckt. Die größte Änderung besteht darin, dass das Buch nicht mehr thematisch, sondern zeitlich gegliedert ist: Kapitelweise wird eine documenta nach der anderen vorge¬stellt, wobei Kimpel durchaus die Informationen mit Bewertungen mischt.
Das Buch versucht, auch breitere Publikumsschichten anzusprechen: Jeder Absatz wird mit einem Reiz- und Stichwort eröffnet, so dass die Neugierde geweckt wird. Zu jeder documenta werden auch die notwendigen Informationen über die Organisatoren, den Etat und die Besucherzahlen aufgelistet.

Beide Publikationen wollen auf dem neuesten Stand sein. Deshalb beziehen beide Autoren auch bereits die laufende Documenta11 mit ein und stellen den künstlerischen Leiter Okwui Enwezor und dessen Vorgehensweise vor. Aber natürlich können die Bücher substanziell nichts zur Ausstellung aussagen, da sie zu frühzeitig abgeschlossen werden mussten. Doch wird jeder gut bedient, der sich in die documenta-Geschichte einlesen will und der wissen möchte, warum gerade diese Ausstellung zum Mythos wurde.
Fast alle, die sich mit der Erfolgsgeschichte der documenta befassen, landen bei der Frage, warum Kassel zu der Ehre gekommen sei. Natürlich wird die Leistung Arnold Bodes in diesem Zusammenhang umfassend gewürdigt. Worauf aber keiner der beiden Autoren überraschenderweise eingeht, ist die Tatsache, dass Bode schon in den 20er-Jahren wesentlich an der Organisation von Kunstausstellungen in Kassel beteiligt war, in denen die wichtigsten deut-schen Avantgarde-Künstler, die auch in der documenta 1955 vertreten waren, vorgestellt wurden.
HNA 28. 8. 2002

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