Wenn Fotografien erzählen

Doppelausstellung in der Kasseler Kunsthalle: „Selbstauslöser“ und „The Day Before Tomorrow“

Träumerische Stille und tosender Straßenlärm, rasende Traber und Filmbilder, die fast zu Standfotos (Stills) erstarren. Die Doppelausstellung in der Kasseler Kunsthalle Fridericianum ist voller Gegensätze, und sie zeigt, wie unergründlich der Reichtum der Fotografie und der darauf aufbauenden Film- und Video¬technik ist. Eine sehenswerte Ausstellung, die die unterschiedlichsten Bilder beschert und Gefühle weckt.

Im Erdgeschoss des Fridericianums findet man die Arbeiten von Igor & Svetlana Kopystiansky. Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen, leben in Berlin und New York, und arbeiten an gemeinsamen Medien- und Fotoprojekten. Im Alltäglichen entdecken sie das Besondere. Eine Vorstellung davon gewannen die Be¬sucher der Documenta 11, in der die Kopystianskys Video-Projektionen zeigten, in denen man sah, wie weggeworfene Gegenstände durch das Wasser segeln.

Eine ähnliche Thematik hatten sie, allerdings weitaus dramatischer, in dem älteren Projekt „Inci-dents“ bearbeitet, das nun zu sehen ist: Während sich der Saal mit dem Lärm des New Yorker Straßenverkehrs anfüllt, sieht man, wie Windböen Papiertüten, Kartons, einen kaputten Regenschirm oder eine Filmrolle hochwirbeln und wegpusten. Der Müll der Millionenstadt entwickelt Eigendynamik. Was als Sozialkritik angelegt sein könnte, wird zur humorvoll-poetischen Studie, weil die Kamera die einzelnen Gegenstände so einfängt, als würden versteckte Motoren sie antreiben.

In vielen Projekten arbeiten Svetlana und Igor Kopystian¬sky parallel. Wenn sie eine Doppelprojektion einer Straßenszene wie in „The Day Be¬fore Tomorrow“ vorstellen, dann machen sie die Abweichungen bewusst, die entstehen, wenn zwei gleichzeitig das selbe Motiv fotografieren. Ihnen geht es nicht nur um die subjektive Differenz. In der Installation in der Rotunde führen sie auf vier mal zwei Bildschirmen vor, wie sich aus der kleinsten Schwenkbewegung Verschiebungen ergeben. Film und Bild werden fast deckungsgleich.

Eine hervorragende Ergän¬zung dazu bildet im Stock da¬rüber die Schau „Selbstauslöser“, in der fünf finnische Künstlerinnen vorgestellt werden. Hier lernt man, wie die Fotografie benutzt wird, um Geschichten zu erzählen. Mithilfe von Inszenierungen werden Stimmungen und Gefühle eingefangen. Dabei trifft der Titel „Selbstauslöser“, weil Elina Brotherus, Aino Kannisto und in früheren Ar¬beiten auch Salla Tykkä sich selbst als Modelle für die Aufnahmen benutzen. Selbst San-
na Kannisto, die für Naturstudien Bühnensituationen schafft, bringt sich gelegentlich selbst in das Bild mit ein. Mit Überraschung registriert man, dass es ein paar Grundzüge gibt, die in allen Arbeiten zu finden sind – die intensive Auseinandersetzung mit der Natur, die Einsamkeit und Melancholie. Am stärksten prägen sich die Fotos von Aino Kannisto ein, die alle denkbaren Rollen durchspielt und somit einen Eindruck von der Fülle des Lebens vermittelt. Noch etwas radikaler arbeitet Elina Brotherus, die sich selbst ausliefert, um den Menschen in der Fremdheit darzustellen. Bei ihr ist aber auch zu erleben, wie die Fotografie die Rolle der Landschaftsmalerei übernimmt. Emotionsgeladen, voller Kraft und Bewegung sind die Filme, die von Fani Niemi-Junkola zu sehen sind.
„Selbstauslöser“ und „The Day Before Tomorrow
HNA 21. 12. 2005

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