Auf ihrer Tournee von Hagen über Berlin, Gent, Zürich bis nach Nürnberg macht die Henry van de
Velde- Ausstellung jetzt Station in Weimar, wo der vielseitige Gestalter 15 Jahre lang wirkte.
Der Belgier Henry van de Velde (1863 – 1957) war als einer der Pioniere des Neu-
en Stils (Jugendstil) bereits international berühmt, als er durch Vermittlung von Harry Graf Kessler 1902 in die kleine Residenzstadt Weimar berufen wurde. Der Gestalter sollte im Großherzogtum der mittelständischen Industrie beratend zur Seite stehen und ihr helfen, mit neu geformten Produkten die Chancen auf dem Markt zu verbessern. Gaben also wirtschaftliche Gründe den Ausschlag für die Berufung, hatten Kessler und van de Velde eher im Sinn, die in die Provinzialität zurückgefallene Klassikerstadt in ein „Laboratorium“ zu verwandeln, in dem der Neue Stil zur Umgestaltung aller Lebensbereiche eingesetzt werden könnte.
Hört man das Expertenurteil, van de Velde habe in Weimar seine reifste Zeit gehabt, und sieht man die in jenen Jahren entstandenen Werke, dann kann man leicht glauben, der Versuch, die Avantgarde nach Weimar zu verpflanzen, sei geglückt. Schließlich gründete van de Velde dort ja auch 1907 die modellhafte Kunstgewerbeschule, auf deren Fundament Walter Gropius 1919 das Bauhaus aufbaute. Doch der An-
schein trügt. Fast von Anfang an hatte van de Velde große Widerstände zu überwinden, zahlreiche Projekte zerschlugen sich, und schließlich war der Belgier, gesteigert durch Kriegshysterie und Fremdenfeindlichkeit, total isoliert. Die Moderne wurde gleich zweifach aus Weimar vertrieben – erst musste van de Velde gehen,
und 1925 musste das Bauhaus Zuflucht in Dessau suchen. Diese Widersprüchlichkeit dokumentiert aber nur der Katalog, die Ausstellung übergeht sie weitgehend.
Glücklicherweise hat van de Veldes Wirken in Weimar einige reizvolle Spuren hinterlassen. Wer seine Werke also studieren will, sollte in der Klassikerstadt nicht versäumen, die von ihm entworfene Kunstgewerbeschule und Kunstschule zu besuchen und vor allem in das Nietzsche-Archiv zu gehen, in dem van de Velde zwei in
sich stimmige, hinreißende Lese- und Arbeitsräume schuf.
Im Nietzsche-Archiv lernt man den Jugendstil von seiner besten Seite kennen. Hier verbinden sich Raumgestalt und Mobiliar zu einer geschlossenen, funktionell glücklichen und keineswegs überladenen
Form. Ansonsten zeigt die Ausstellung, dass Henry van de Veldes gesamtes Werk auch nicht
annähernd mit dem Begriff Jugendstil zu charakterisieren ist. So formbestimmend er für die
„Art Nouveau“ ab 1895 war, so unangefochten ging er auch über sie hinweg und wirkte in den 20er und 30er Jahren an der Entwicklung eines sachlicheren, internationalen Stils mit. Allerdings hat er die Kantigkeit der Neuen Sachlichkeit nicht mitgetragen.
Henry van de Velde hatte unter dem Einfluss von Signac und van Gogh als Maler begonnen. Wäre er der Malerei treu geblieben, das beweisen seine in Weimar gezeigten Gemälde, hätte er gewiss zu den bestimmenden Figuren der Avantgarde gehört. Doch er kehrte der freien Kunst den Rücken und entschied sich für das Angewandte. Auch dabei blieb er Künstler, aber in seinem Kopf entstanden nun Formentwürfe für das ganze Leben: Fächer und Stoffe, Bucheinbände und Bestecke, Möbel und Raumentwürfe. Es gab fast nichts, wofür er nicht eine neue und bestechende Gestalt fand. Architektur hatte er nie studiert, doch er wurde zum großen Baumeister. Schließlich entwarf er auch Eisenbahnabteile und Ozeanriesen.
Erstaunlich ist, dass die relativ kleine Kunsthalle diese Vielfalt spiegeln kann. Die rund 800 Fo-
tos, Zeichnungen, Schriftstücke, Bücher, Gebrauchsgegenstände, Möbelstücke und Modelle sind auf eine bezwingende Art in der Kunsthalle arrangiert. Die Besucher können sich ins Detail vertiefen, behalten
aber immer den Gesamtentwurf, der hinter allem steht, im Blick.
HNA 28. 11. 1998