„nature after nature“, Kunsthalle Fridericianum, 11. Mai – 27. Juli 2014
Im vorigen Herbst hatte sich Susanne Pfeffer als die neue Leiterin der Kasseler Kunsthalle im Fridericianum mit der Ausstellung „Speculations on Anonymous Materials“ vorgestellt. In dieser Schau waren junge internationale Künstlerinnen und Künstler versammelt, die den überlieferten künstlerischen Prozess in Frage stellten. Denn angesichts der schier unbegrenzten Möglichkeiten im digitalen Zeitalter können Scans und 3D-Drucker das hervorbringen, was früher Handwerker und Künstler leisteten.
Zwar machte die Ausstellung klar, dass die Künstler nicht so einfach aus der Verantwortung entlassen werden können – allein wenn es um das sich Infrage stellen geht -, doch es wurde ebenso klar, dass die virtuelle Welt uns immer stärker von der gelebten Wirklichkeit und der Natur entfremdet.
Insofern setzt Susanne Pfeffers zweite Kasseler Ausstellung da an, wo die erste aufgehört hat. Zwölf internationale Künstlerinnen und Künstler unternehmen in der Schau „nature after nature“ eine Bestandsaufnahme: Was ist von der ersten Natur geblieben, nachdem wir sie zubetoniert, verdrahtet, vermüllt und in Plastiklandschaften verwandelt haben? Da ist kaum noch Platz für jene zweite Natur, die von den Dichtern und Künstlern verehrt und gefeiert wurde. Die einzige Ausnahme bildet in diesem Tableau die Arbeit von Susanne Winterling (Jahrgang 1970), die in einem Video die erst kürzlich gemachte Entdeckung vorstellt, dass bestimmte Meereslebewesen leuchtende Farben abstrahlen. Indem die Künstlerin die Videoaufnahmen mit neonfarbigen Scheiben umrahmt, reflektiert sie auf fast klassische Weise Naturschönes.
Aber das ist die absolute Ausnahme. Wir haben es ansonsten mit der harten Realität der dritten Natur zu tun, in der nur Spurenelemente des Natürlichen zu finden sind und die wir, wenn es ganz schlimm kommt, als Teil unseres Naturverständnisses begreifen. Da geht es uns im Grunde nicht viel anders als den Zebrafinken, die ihre Nester aus Kabeln, Plastikästen, Papierfetzen und Naturfasern bauten – alles Materialien, die der Künstlern Björn Braun (Jahrgang 1979) für sie bereit gehalten hatte und die die Vögel als natürlich empfanden.
Die Ausstellung gleicht einer archäologischen Schau, in der Grabungsfunde präsentiert werden. Geborgen wird, was erklärt, warum die Natur der Zerstörung anheimfiel. Die Holländerin Marlie Mul (Jahrgang 1980) schuf Bodenobjekte, die wie Teerflecken wirken. Oder sie bringt in Erinnerung, wie Zigarettenstummel und Kaugummis in den Gittern von Belüftungsschächten versteckt werden. Dazu passen die Objekte des Amerikaners Jason Loebs (Jahrgang 1980), der eine Serie von klobigen Objekten aus Erzmineralen geschaffen hat, die er wie kostbare Skulpturen auf Sockeln präsentiert, die aus den Versandkartons bestehen.
In dieser Ausstellung lernen wir, wie wir uns manipulieren lassen. Die englische Künstlerin Alice Channer (Jahrgang 1977) hat in einem Raum eine über zwölf Meter lange Schlangenhaut, die bis zur Decke reicht, installiert. Die vermeintliche Tierhaut ist aber das anspruchsvoll gedruckte Foto eines Modedesigns. Da haben es die auf Kupferplatten gedruckten Scans von wirklichen Schlangenhäuten schwer, sich zu behaupten. Dem Amerikaner Sam Lewitt (Jahrgang 1981) ging es dabei nicht um Größe und Wirkung, sondern um die kleinen unmerklichen Veränderungsprozesse der leitenden und sich verändernden Materialien.
Kann denn der Müll schön sein? Die Ukrainerin Olga Balema (Jahrgang 1984) meint das in gewisser Weise schon. Ihre mit Wasser und anderen Materialien gefüllten Plastikkissen leben nicht nur von den Farbkontrasten, sondern übermitteln auch die Botschaft, dass die Kraft des Wassers zersetzt und der ersten Natur zur Erneuerung verhilft.
Wie weit wir von der ersten Natur entfernt sind, zeigt die Schwedin Nina Canell (Jahrgang 1979). Ihre Arbeit „Nostalgia in New Car“ besteht aus Keramikkartuschen, die mit Hilfe von bestimmten Gerüchen die Kaufneigung verstärken sollen. Der Geruch eines neuen Autos ist für manchen das Größte der Gefühle. Damit wird offenbart, wie gerne wir uns in die virtuelle Realität oder eine Ersatzwelt abdrängen lassen. Eine spannende Ausstellung, die, je intensiver man sich sie einlässt, desto mehr ihre Sprödigkeit verliert und einen versteckten Reichtum offenbart.
Parallel zu dieser Gruppenausstellung wird erstmals wieder der Zwehrenturm mit seinen vier Räumen auf vier Etagen genutzt. Kuratiert von Nina Tabassomi, zeigt die Ägypterin Maha Maamoun Videos, deren Bilder sie in Filmen und anderen Videos gefunden hat und neu montiert hat. Sie präsentiert eine ungeheure Ausdrucksbreite in der Auseinandersetzung mit der ägyptischen Identität. Wenn sie die Klischeebilder der Pyramiden von Gizeh aus den Filmen der 50er Jahre recycelt, dann ist sie genau so nah an der Realität wie wenn sie Youtube-Szenen von der Erstürmung der Staatssicherheitszentrale nach Mubaraks Sturz neu komponiert. Das sind Zeugnisse einer souverän aufbereiteten, kritischen Kunst.