Das bedrohte Erbe des Joseph Beuys

Morgen wäre Joseph Beuys 75 Jahre alt geworden. Der Künstler vom Niederrhein hat viel bewegt. Zu seinen wichtigsten Arbeiten gehören die „7000 Eichen“ in Kassel. Aber die sind bedroht.

Als Joseph Beuys 1982 im Vorfeld der documenta 7 den ersten Baum vor dem Museum Fridericianum in Kassel pflanzte und damit den
symbolischen Startschuß für die Aktion „7000 Eichen“ gab, waren nur einige Mitarbeiter, Freunde und die Presse zugegen. Fünf Jahre später jedoch, zum glanzvollen Abschluß der Pflanzaktion am Eröffnungstag der documenta 8, hatte sich eine riesige Menschenmenge auf dem Friedrichsplatz eingefunden: Eine Idee hatte sich durchgesetzt. Aus dem anfangs skeptisch aufgenommenen Plan der „Stadtverwaldung“ war eine erfolgreiche Aktion geworden, die zu dem Zeitpunkt von der Stadt Kassel mitgetragen worden und durch die viele zuvor gesichtslose und trostlose Straßen Profil und Leben gewonnen hatten.

Joseph Beuys, der Künstler, der das Verwaldungsprojekt mit Hilfe der Kunst und wichtiger Weggefährten durchgesetzt hatte, konnte diesen triumphalen Abschluß nicht mehr erleben. Rund eineinhalb Jahre zuvor war er gestorben.

Beuys ist viel mißverstanden worden – von seinen Gegnern und Kritikern ebenso wie manchmal von seinen Freunden, die ihn für eigene Vorstellungen vereinnahmen wollten. In seinen Denken, das auf faszinierende Weise das Naheliegende mit dem Visionären und das Greifbare mit Abstrakten verband, war er den anderen und manchmal sich selbst weit voraus. So war lange außerhalb der eingeschworenen Kunstzirkel nicht nachzuvollziehen, was er denn unter einer „Sozialen Skulptur“ verstehe. In dem Augenblick aber, in dem er seine Aktion „7000 Eichen“ in Kassel umzusetzen begann, konnte es keine Mißverständnisse mehr geben: Mit dem Projekt verließ er endgültig den engen Raum der Kunst und mischte sich in die Fragen der Stadtgestaltung und Lebenserhaltung ein. 7000 Bäume wurden im Kasseler Stadtgebiet innerhalb von fünf Jahren gepflanzt, jeder Baum begleitet durch eine Basaltsäule als Zeichen.

Viele halfen dabei, das millionenschwere Projekt zu ermöglichen. Einer von ihnen war der Beuys-Förderer Heiner Bastian, der 1985 eine Ausstellung mit Werken internationaler Künstler auf Tournee schicken konnte, die ihre Arbeiten zugunsten der „7000 Eichen“ in Kassel gestiftet hatten. Eines dieser Werke, das dann auch für Kassel angekauft wurde, war das Doppelporträt von Beuys, das Andy Warhol angefertigt hat. Heute hängt es in der Neuen Galerie in Kassel.

Beuys blickt auf diesen beiden Bildern die Besucher traurig und skeptisch an. Gestern, so schien es, hatte er allen Grund dazu. Im Angesicht der Porträts und vor dem Beuys- Raum der Neuen Galerie wurde nämlich ein Gutachten zum Erhaltungs- und Pflegezustand der „7000 Eichen“ in Kassel vorgestellt. Die Ergebnisse sind niederschmetternd: Nach Einschätzung der Gutachter wurde die Pflege der Bäume in den vergangenen Jahren stark vernachlässigt oder falsch betrieben. Nur wenn die Bäume durch regelmäßigen Schnitt (der unteren Aste) dazu gebracht würden, nach rund zehn Jahren ihre Kronen erst in sechs Meter Höhe zu bilden, könnten sie als Stadtbegrünung an Straßen und Bürgersteigen überleben. Mangelnde oder falsche Behandlung, so die Gutachter, hätten dazu geführt, daß nur mit Hilfe eines Aufwandes von zwei Millionen Mark die Versäumnisse wettgemacht werden könnten.

Die Bestandsaunahme hat im übrigen ergeben, daß fünf Prozent der Bäume und fünf Prozent der Basaltsäulen verschwunden sind. Nur ein Prozent der Bäume sei so „erzogen“ worden, daß sie Aussicht auf ein über hundertjähriges Leben hätten. Allerdings wurde bei der Vorlage der Ergebnisse auch klar, daß es unter den Landschaftsgärtnern wohl auch ganz andere Ansichten über die richtige „Baumerziehung “ gibt.

HNA 11. 5. 1996

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