Zwischen Hoffnung und Endzeit-Vision

In 111 Tagen beginnt in Kassel die documenta 8. Wie schon 1977, als Manfred Schneckenburger ebenfalls die documenta leitete, wird diese internationale Kunstausstellung über die Museumsräume hinausgreifen. Während aber bei der documenta 6 die Skulpturen und Installationen den Auepark eroberten, werden in diesem Jahr mehrere Projekte direkt in die Innenstadt eindringen und gegebene Strukturen für 100 Tage korrigieren. Die Kunst, so Schneckenhurger, hat den historischen, kulturellen und sozialen Umraum wiederentdeckt. Und so stellt er, wenn er sein documenta-Konzept skizziert, immer wieder die Außenskulpturen in den Mittelpunkt seiner Darlegungen.

Um zu erklären, wohin die Kunst 1987 führt, beschwört Manfred Schneckenburger die Erinnerung: Vor zehn Jahren baute George Trakas einen Stahlsteg, der aus dem Kasseler Auepark heraus auf die Orangerie zuführte und dabei der traditionellen Achse der Barockanlage zuwiderlief. Die Besucher der documenta 6
konnten auf diesem leicht schwingenden Steg die Kunstlandschaft neu erleben (und sie taten es mit großer Begeisterung). Das Stahlband kreuzte eine nur schwer begehbare Holzbrücke, die eine fast gegensätzliche Erlebnisform vermittelte. „Ich gehe, also bin ich‘, wandelt Schneckenburger das Descartes-Zitat ab, um zu zeigen, wie viele Kunstwerke in den 70er Jahren auf die individuelle Erfahrung zielten.

Der Kanadier Trakas wird auch in diesem Jahr bei der documenta dabei sein. Doch nun wird sein Bau nicht in die Natur hinauslocken, sondern ins Herz der Stadt hineinführen: Der runde Königsplatz, über dessen misslungene Gestaltung immer wieder nachgedacht wird, soll unter seinen Eingriffen zur Piazza werden, zu einem Ort, an dem man wieder das Gefühl von einem Platz gewinnt. Ein System von Brücken, Gängen und Stegen soll in einem Ring entstehen und auf diesem Weg eine hoffnungsvolle Vision für diese Stadtlandschaft herstellen.

Die Eingriffe in die Stadt werden spürbar werden und so die documenta und ihre Ideen in die Öffentlichkeit hineintragen Der Japaner Tadashi Kawamata wird, nur einen Steinwurf vom Königsplatz entfernt, die Ruine der Garnisonkirche mit Bauhölzern ummanteln. Die kantigen Mauern können durch diese „Einholzung“, die sich in Form einer plastischen Übermalung vollzieht, eine neue Form gewinnen.

Einen völlig anderen Weg wählt der Schotte Ian Hamilton Finlay: Auf der Achse zwischen der Orangerie und dem Tempel auf der Schwaneninsel stellt er vier fünf Meter hohe Guillotinen auf. Die Orangerie entstand zu Beginn des 18. Jahrhunderts, der Pavillon am anderen Ende der Achse wurde in seiner heutigen Form zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbaut. Zwei heitere Bauten in harmonischer Landschaft. Wer von der Orangerie zum Tempel will, muß durch ein Jahrhundert, das mit der französischen Revolution der Welt auch das mechanische Fallbeil, die Guillotine, und die Schreckensherrschaft bescherte. Die gebaute Geschichte erhält eine neue Dimension. Schneckenburger: „Der Terror wird bildlich in die Landschaft gesetzt.“

Während bei Finlay die Widersprüchlichkeit der Geschichte (und die Verdrängung ihrer Schattenseiten) gespiegelt werden soll, wollen andere Künstler direkte Endzeitvisionen einbringen: Robert Morris, der 1977 mit einem Steinfeld im Auepark vertreten war, hat beispielsweise ein Bild vom atomaren Feuersturm gemalt und dieses Gemälde in einen Rahmen mit theatralischem Todesdekor eingelassen.

Natürlich gab es auch schon in früheren documenten politisch-kritische Kunst. Man denke nur an Achim Freyers „Deutschland – ein Lebensraum“ und Wolf Vostells
Schlamm-Video-Raum in der documenta 6. Schneckenburger und sein Team meinen aber beobachten zu können, daß viele Künstler, die sich früher mit selbstbezogenen Arbeiten beschäftigten, sich nun historischen und politischen Phänomenen zuwenden.

Die documenta 6 litt darunter, daß sie stets an dem ihr vorausgeschickten, schwergewichtigen Medienkonzept gemessen wurde. Schneckenburger hat daraus gelernt und auf einen programmatischen Unter- oder Überbau verzichtet. Dennoch glaubt er, daß es ein Trend der 80er Jahre sei, daß sich mehr und mehr Künstler nicht länger auf reine Formuntersuchungen einließen, sondern die bekräftigende, ironische oder pathetisch herausfordernde Auseinandersetzung mit dem funktionalen Objekt suchten – mit der der Architektur, mit Möbeln oder anderen Design-Objekten.

Insofern wird die documenta 8 eine neue Dimension erschließen: Architektur und Design werden nicht nur in die Ausstellung einbezogen, sondern auch das, was zur Grundausstattung einer normalen Kunstschau gehört, wird Teil der Ausstellung werden: Der Tisch für den Bücherverkauf und die Stühle für das Aufsichtspersonal sollen diesmal keine Fremdkörper sein, sondern in ihrer Nutzung auch zugleich Stücke ausgesuchten Designs. Andererseits will Thomas Schütte neben der Orangerie einen Pavillon errichten, der in pathetischer Architektursprache erbaut ist; dieser Bau soll als Stand für den Eisverkauf dienen.

Die Plastik wird in die gesellschaftliche Funktion zurückgeholt. Das gilt auch für die Werke, die sich durch spielerische und ironische Brechungen dieser Funktionszuweisung entziehen. Dazu wird auch eine zwei Meter hohe Sänfte gehören, die Klaus Kumrow aufstellen wird. Zitate, Anspielungen, Beschwörungen, Verbeugungen und Brechungen. Die Kunst nutzt die Tradition als Nährplatz und Spielboden.

120 Künstler sollen an der ständigen Ausstellung der documenta 8 beteiligt sein, darüber hinaus noch 16 Designer und zwölf Architekten. Architekten, Designer und Künstler, die sich mit Architektur auseinandersetzen, werden sich in der Orangerie begegnen. So soll dieser Bau zum Ort des heiteren Geistes, des Esprit, der optimistischen Utopien, werden. Im Museum Fridericianum hingegen sollen die Arbeiten der „starken Emotionen“ gezeigt werden, die Visionen vom Ende der Utopie.

Der zentrale Raum über dem Eingang des Fridericianums wird dem Künstler gewidmet, der als einer der größten Anreger der Nachkriegszeit gilt: Joseph Beuys, der vor einem Jahr starb, wollte ursprünglich für die documenta 8 ein neues Werk schaffen. Nun aber muß sein Vermächtnis gezeigt werden, das 39teilige Environment „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“, das kürzlich Frankfurt zum Preis für 2,5 Millionen Mark für sein Museum kaufte, das aber in Kassel erstmals als vollständige Installation präsentiert werden soll.
Beuys wird doppelt an der documenta 8 beteiligt sein: Am Tag der Eröffnung, am 12. Juni, will Eva Beuys die letzte der 7 000 Eichen vor dem Fridericianum pflanzen. Dann wird also das größte, aufwendigste und folgenreichste Projekt einer documenta beendet sein und zugleich die Brücke von einer Kunstschau zur anderen geschlagen.

Neben Serra, Trakas, Morris, Polke, Richter, Kiefer, Karavan und anderen zählt Beuys zu den festen Grüßen der documenta-Geschichte, die zu immer neuen Beziehungspunkten in der Kunst werden. Gerade in Beuys‘ Beiträgen zu den documenten der Jahre 1977, 1982 und 1987 glaubt Schneckenburger eine signifikante Entwicklung ablesen zu können: 1977 diskutierte Beuys die gesellschaftlichen Utopien unter der Honigpumpe; 1982 ging er mit dem Projekt „7 000 Eichen“ in die städtische Realität; und nun wird eine Endzeit-Vision zu sehen sein.

Schneckenburger sieht sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, die documenta 8 vernachlässige die Malerei. Das kommt nicht von ungefähr – wenn er Beispiele für sein Konzept anführt, verweist er vornehmlich auf die Skulptur. Doch der documenta-Leiter wehrt sich gegen den Vorwurf: Malerei werde mehr als genug zu sehen sein. Im Fridericianum, so versprach er jüngst in einem Vortrag, werde in einem Saal eine „richtige kleine Pinakothek“ eingerichtet.

HNA 21. 2. 1987

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