Bilder – aber anders als gewohnt

Heute um 10 Uhr öffnet die zehnte documenta. An dieser Stelle soll eine Orientierung gegeben und eine erste Bewertung versucht werden.

Die Klagen über die vorige documenta klingen noch im Ohr: Viel zu groß, viel zu viel, viel zu beliebig. Und was ist dieses Jahr von Pressekollegen zu hören? Viel zu karg und viel zu wenig. Wie ist also die documenta X zu bewerten, die so sehr die Gemüter beschäftigte, weil sie lange ein Geheimnis blieb?

Gehen wir schrittweise vor, um eine Antwort und Klarheit zu gewinnen:

1) Catherine David hat den documenta-Parcours vom Kulturbahnhof aus geplant. Dort ist der Ort der Ankunft für die von auswärts per Bahn anreisenden Gäste. Aber es ist nicht zwingend, dort zu starten: Der Wechsel zwischen den Wurzeln heutiger Kunst und den aktuellen Werken zieht sich durch die drei Hauptstandorte – Kulturbahnhof, Museum Fridericianum und Ottoneum. Sie zusammen ergeben ein Ganzes, das man von verschiedenen Seiten angehen kann. Lediglich documenta-Halle und Orangerie sollten mit der neueren und ganz jungen Kunst ans Ende gestellt werden.

2) Man braucht Zeit, viel Zeit. Natürlich ist die gesamte Ausstellung in zwei Stunden zu durchlaufen, aber wer sich damit begnügt, hat im Grunde nichts gesehen. Die Video-Räume dürfen nicht nur registriert werden, sondern müssen genutzt werden. Und die zahlreichen (auch kleinen Fotos) verlangen den intensiven Blick, wenn wahrgenommen werden soll, daß es da nicht nur um „schöne“ oder „wahre“ Bilder geht, sondern um die Auseinandersetzung mit dem Bild und unserer Gesellschaft.

3) Daraus folgt, daß man vom traditionellen Ausstellungsbesuchsritus abgehen muß: Nicht nur nach großen Formaten und grellen Farben Ausschau halten. Schwarz-Weiß ist wieder Mode und hat etwas zu sagen.

4) Verständlicherweise ist der Frust zuerst groß, daß nur Spuren von Malerei zu sehen sind, daß es nicht nach Farbe riecht und daß der Streit um Abstraktion oder Figuration nicht stattfindet. Sind wir es nicht ganz anders gewöhnt? Richtig ist, daß die Malerei überall ihre Vormachtstellung verloren hat (auch auf der Biennale in Venedig). Genauso richtig aber ist, daß die Malerei noch viel zu sagen hat – auch zur Funktion der Bilder, die Catherine David untersuchen will. (Allerdings ist stark die Zeichnung mit hervorragenden Beiträgen vertreten.)

5) Doch denken wir an Gerhard Richter: In Venedig hat er für seine jüngste Malerei (Bilder im mittleren Format) einen eigenen Raum und einen Preis erhalten. Richter in gewohnter Qualität. Aber viele Male aufregender ist das, was in Kassel zu sehen ist: „Der Atlas“ – die 600 Tafeln mit einigen tausend Bildern, die die Studien und die Erinnerung seiner Malerei bilden. Allein dort kann man Stunden verbringen.

6) Überhaupt die älteren Künstler und deren Räume! Auch die Biennale wagt den Blick zurück, doch sie enttäuscht mehrfach mit neuen Werken der alten Heroen. In Kassel ging Catherine David weiter zurück und bezog vor allem Pioniere heutiger Kunst mit ein, an die wir hier sonst kaum denken. Diese Räume von Oyvind Fahlström, Lygia Clark, Hélio Oiticica, Richard Hamilton und Gerhard Richter bilden die Stützen und das Zentrum der Ausstellung.

7) Wer nach junger Kunst fragt, muß bei Richard Hamilton reinschauen. Der heute 75jährige, der vor 40 Jahren die Pop-Art mitbegründete, überrascht mit zukunftsweisenden Arbeiten, die eine Verbindung von Malerei, Fotografie und Computertechnik herstellen. Auch die Arbeiten der beiden nicht mehr lebenden Künstler Oiticica und Clark machen denen vieler jüngerer Künstler Konkurrenz.

8) Mehrfach hat die documenta Versuche unternommen, die Architektur und Design einzubeziehen. Aber es entstanden fast immer nur eigenständige Abteilungen, die mit der Kunstschau nichts zu tun hatten. Jetzt wurden Architekten, die sich künstlerisch artikulieren, und Künstler, die über Architektur und Design nachdenken, durch Bilder und Installationen so zusammengeführt, daß ein echter Dialog über das Verhältnis von Stadt, Gesellschaft, Lebensform und Kunst entstehen kann.

9) Nicht alles und jedes paßt auf Anhieb zusammen. Wo Komplexität sichtbar werden soll, bedarf es verschiedener Ansätze, um sich die Themen und Arbeiten zu erschließen. Aber allmählich verfestigt sich der Eindruck, daß Catherine David quer zur im Kunstbetrieb üblichen Verfahrensweise einen Schnitt durch Kunst der letzten 30 Jahre macht hat, der gewagt ist, bewußt Lücken läßt, der auch der Kunst und den ihr kooperierenden Techniken die gesellschaftliche Bedeutung zurückgibt.

10) Ein zentrales Thema dabei ist die Stadt: Der urbane Raum als Vision und als Unort. Im Museum Fridericianum und im Ottoneum gibt es zahlreiche Anregungen von Foto-Arbeiten, Zeichnungen, Modellen und Videos dazu. Aber zu den Höhepunkten gehören die Unterführungen zwischen Treppenstrafle und Kulturbahnhof. Dort spitzen die Beiträge von Christine Hill (Volksboutique), Jeff Wall (Leuchtkastenbild) und Suzanne Lafont (Plakatfotos) die trostlose Situation derart zu, daß alles im revolutionären Sinne zur Kunst wird (ohne ästhetisiert zu werden).

11) Selbst die von Catherine David so wenig geliebte documenta-Halle überrascht. Sie wird zu einem faszinierenden Kommunikationsraum.

12) Die documenta X nimmt Abschied vom Anspruch, heutige Kunst in Gänze zu zeigen. Das ist riskant und provoziert Enttäuschungen. Sie setzt an die Stelle aber eine klare Position, die so po1itisch ist, wie sie bisher in noch keiner documenta war. Das heißt am Ende für die erste Bilanz: Die Ausstellung fesselt und wird gut, wenn man die Konzentration aufbringt und nicht nur abhakt, wer da ist und fehlen könnte.

HNA 21. 6. 1997

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