Die Frage nach dem Museum

Die Schauplätze der documenta 9 und ihre Künstler: Als dritten Ort stellen wir die Neue Galerie vor.

Erst spät, fast zu spät, kam in Kassel der Gedanke auf, jeweils aus einer documenta Werke für die Stadt bzw. für die Museen anzukaufen. Bis Ende der 70er Jahre blieb es eher dem Zufall überlassen, ob die documenta dauerhafte Spuren in Kassel hinterließ. Das änderte sich mit der documenta 7 (1982) schlagartig. Seitdem werden systematisch Bilder, Skulpturen und Modelle für die Neue Galerie angekauft, in der die städtischen und staatlichen Sammlungen vereinigt sind. So ist – in Ergänzung zu einem großen Leihgabenkomplex mit Kunst der 60 Jahre – ein vorzeigbarer Bestand zeitgenössischer Kunst entstanden.

Die Neue Galerie, 1877 als das Haus für die Kasseler Gemäldesammlung (Rembrandt, Rubens…) erbaut, wurde im Krieg zerstört. Erst in den 60er Jahren ging man daran, das Gebäude wiederherzustellen. In dem fertigen Rohbau waren 1972 wichtige Abteilungen der documenta 5 zu sehen. 1976 wurde die Neue Galerie als Museum für die Kunst seit 1750 wiedereröffnet. Während sie bei der Kunst früherer Epochen nur vereinzelt über Werke von internationalem Rang verfügt, konnte sie nun als ein Museum für zeitgenössische Kunst zusehends an Profil gewinnen.

Diese Entwicklung sprach gegen eine weitere Einbeziehung der Neuen Galerie. Warum, so wurde zu Recht gefragt, soll die zeitgenössische Sammlung ausgerechnet dann weggeräumt werden, wenn ein internationales Kunstpublikum anreist? Außerdem hatte die Art und Weise, in der 1977 und 1982 Teile der Neuen Galerie als documenta-Ausstellungsflächen gedient hatten, nicht überzeugt.

Kein Wunder, daß Jan Hoet einen Proteststurm hervorrief, als er unmittelbar nach seiner Berufung zum documenta-Leiter angekündigte, er wolle die gesamte Neue Galerie ausräumen lassen. Die Erregung legte sich, als Hoet von seinem Plan abrückte. An der Neuen Galerie als Standort hielt er aber weiter fest, auch wenn er wußte, daß er nicht die Fehler von 1977 und 1982 wiederholen wollte. Schließlich aber fand er den Zugriff, der auch andere überzeugte: Jan Hoet entwickelte eine für Kassel zugeschnittene Ausstellungsidee, die er aus seinem Erfolgsprojekt „Chambres d‘amis“ (Zimmer der Freunde) herleitete. Bei der Genter Ausstellung „Chambres d‘amis“ hatte Hoet das Museum verlassen und und 50 Künstler ihre Arbeiten in und im Dialog mit Privatwohnungen in Gent schaffen lassen.

Dieses Konzept übertrug Hoet in abgewandelter Form auf die Neue Galerie: 14 Künstler sollen dort ein Gastspiel geben – aber nicht zusammengedrängt auf ein paar leergeräumte Säle, sondern über das Museum verteilt. Es wurden „Gastzimmer“ für die Künstler gesucht, die in der Auseinandersetzung mit der vorhandenen Sammlung ihre Arbeiten konzipieren wollen. Den augenscheinlichen Nachteil (das Museum nicht als Freiraum zu haben) kehrte Hoet in einen Vorteil um: Er stellt Museums- sammlung und documenta-Beiträge bewußt in Beziehung zueinander und suchte für die Neue Galerie jene Künstler aus, die das Museum thematisieren.

Es geht um die Sprache der Kunst und auch die Haßliebe zwischen documenta und Museum.
Gerhard Merz ist für Hoet einer jener Künstler, die im Museum das absolute Ziel sehen, und Joseph Kosuth steht für die Kunst, die sich an der Sprache der Kunst reibt. Beide, Kosuth und Merz, werden übrigens zum vierten Mal an einer documenta teilnehmen.

Erstmals in einer documenta ist hingegen der in Kassel lebende Japaner Kazuo Katase vertreten: Er wird in dem Saal, in dem die Bilder der deutschen Impressionisten Curt Herrmann und Paul Baum hängen, einen zweiten, kleineren Raum hineinsetzen, in dem er eine Beziehung zwischen Museumserlebnis, Kunstzerstörung und Wirklichkeit herstellt. Die Besucher werden durch diesen Raum hindurchgeführt und sollen immer noch wahrnehmen können, daß rundherum die Gemäldesammlung hängt.

Auch die Amerikanerin Zoe Leonhard hat ihre documenta-Premiere Sie hat die in der Neuen Galerie gezeigten Werke sorgfältig studiert und dabei festgestellt, daß die Erotik vieler Bilder Ausdruck einer männlich ausgerichteten Gesellschaft sei. In vier Räumen will sie folglich ihre Erfahrungen umsetzen und „Kommentare“ zu den Werken entwickeln.

HNA 5. 4. 1992

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