Außenseiter macht das Rennen

Roger M. Buergel soll documenta 12 leiten – Lautstarke Studentenproteste

KASSEL. Für den in Wien lebenden Roger M. Buergel (41) kam der lautstarke Studentenprotest gegen die Bildungspolitik wie gerufen. Indem er sich bei seiner Vorstellung in der Pressekonferenz direkt an die Studenten wandte, konnte er klar machen, dass für ihn eine Ausstellung außerhalb gesellschaftlicher Bezüge undenkbar sei. Als Lehrbeauftragter an der Universität Lüneburg wisse er, um welche Probleme es gehe. Aber die Studenten wollten nicht mit dem Kritiker und Ausstellungsmacher diskutieren, der gerade zum künstlerischen Leiter der documenta 12 (16.6. bis 23.9. 2007) berufen worden war. Ihr lautstarker Protest, der zum Abbruch der Pressekonferenz führte, galt Hessens Wissenschafts- und Kunstminister Udo Corts. Die nach ihm geworfene Torte aber verfehlte ihr Ziel. Auch aus der Sicht der achtköpfigen Findungskommission ist der aus Berlin stammende Buergel ein Außenseiter. Wie Gavin Jantjes für die Kommission sagte, habe Buergel die klarsten Vorstellungen vorgetragen. Der neue documenta-Leiter ist selbstbewusst und versteht sich als Schöngeist. Er hat nicht nur Kunst in Wien studiert (1983-87), sondern hat auch selbst künstlerisch gearbeitet. Aber das Malen hat er aufgegeben und ist in das Schreiben über Kunst und in das Organisieren von Ausstellungen hineingewachsen. Noch während seines Studiums, in das er später auch Philosophie, Wirtschaft und Film einbezog, war er Privatsekretär des Aktionskünstlers Hermann Nitsch. Für Buergel steht fest, dass die documenta, seit Okwui Enwezor sie leitete, nur noch global denkbar sei. Aber anders als seine unmittelbaren Vorgänger setzt er auf die unmittelbare künstlerische Praxis. Die Ausstellung soll durch die Kraft der Werke wirken und nicht durch ein theoretisches Raster. Außerdem möchte der Kurator, der sich als Repräsentant der Künstler sieht, mit denen er zusammenarbeitet, die neurotische Fixierung auf den Leiter der documenta beenden. Er sieht sich nicht als Autor der Ausstellung, sondern als einen Realisator. Dementsprechend will er bei der Organisation die ihm übertragene Macht teilen. In Lüneburg hat er gerade bei seinem Ausstellungsprojekt Die Regierung, das er wie viele andere Projekte mit Ruth Noack organisiert hat, über Fragen der Macht nachgedacht. In Leipzig und Ljubljana hatte er zuvor Ausstellungen zum Thema Formen der Organisation verantwortet. Und in Wien war er 2000 für Dinge, die wir nicht verstehen verantwortlich. Bürgel: Ich habe ein Faible für originelle Titel. Zum Kreis der Künstler, die in seinen Ausstellungen immer wieder auftauchten, gehören Ines Doujak, Harun Farocki, Peter Friedl, Dierk Schmidt, Allan Sekula und Andreas Siekmann. Mit der documenta-Ausstellung 2007 will Buergel auch in den Stadtraum gehen. Lieber als große Hallen sind ihm kleinere Orte, die er als Module einsetzen will. Außerdem denkt Buergel an eine intensive Zusammenarbeit mit künstlerischen Gruppen und Initiativen, die in Kassel und weltweit vor Ort arbeiten. Wie er sie findet? Vieles kenne er schon, sagt er: Ich habe einen Rucksack voller Materialien mitgebracht.
HNA, 4. 12. 2003

Kommentar: Die Stadt als Bühne

Zum dritten Mal in Folge fiel bei der Suche nach einem documenta-Leiter die Wahl auf einen Außenseiter. Selbst Eingeweihte kannten Roger M. Buergel kaum, obwohl er in der Kunstszene kein unbeschriebenes Blatt ist. Mit Großausstellungen wie etwa einer Biennale hat Buergel keine Organisations-Erfahrungen gesammelt. Aber für ihn selbst ist es gar keine Frage, ob er in Kassel die Aufgabe schaffen wird. Wir können davon ausgehen, dass Buergel 2007 dort weiter macht, wo Enwezor aufgehört hat, ohne allerdings sich und das Publikum mit einem zu großen Theorieberg zu belasten. Er sucht die direkte Auseinandersetzung mit dem Stadtraum. Dabei ist kaum an die Außenskulptur im alten Stil zu denken. Eher hat er Projekte wie die von Thomas Hirschhorn und Park Fiction im Sinn: Die Stadt als Bühne künstlerisch-gesellschaftlicher Probleme. Das kann spannend werden.
HNA 4. 12. 2003

Außerhalb des Kunstmarktes
Mit der Auswahl von Roger M. Buergel setzte die Findungskommission Zeichen

KASSEL. Auch im Jahre 2007 kehrt die documenta nicht zu dem Ausstellungscharakter zurück, den sie bis 1992 hatte. Die Großausstellung als Erlebnisraum, in dem man den neuesten und attraktivsten Kunstwerken der verschiedenen Bereiche begegnet, ist in Kassel auch weiterhin kein Thema. Das ist die vielleicht wichtigste Botschaft, die sich mit der Berufung des in Berlin geborenen und in Wien lebenden Kritikers und Ausstellungsmachers Roger M(artin) Buergel verbindet. Der 41-Jährige, der verheiratet ist und zwei Kinder hat, sucht die Kunst nicht dort, wo sie sich laut aufdrängt, sondern bevorzugt die Nebenwege und Außenseiter. Wenn man Buergel, der selbst einmal als Künstler gearbeitet hatte, erlebt und sprechen hört, dann denkt man eher an einen Theoretiker und auch an einen Schöngeist, wie er sich selbst einordnet. Aber im Verlauf des Gesprächs besteht er darauf, dass die Ausstellungen, die er gemacht hat und die er machen will, nicht durch die Theorie wirken und verstehbar werden sollen, sondern unmittelbar erlebbar seien. Die Kunstwerke selbst sollen im Mittelpunkt stehen. In der Beziehung denkt er wie Jan Hoet, der 1992 die documenta leitete. Trotzdem werden Welten zwischen Hoets überbordender Schau und Buergels kommender documenta liegen. Wenn man versucht, Buergel innerhalb der documenta-Geschichte zu verorten, dann wird man ihn eher in der Nähe zu Okwui Enwezor ansiedeln können. Enwezor hatte die Kasseler Ausstellung im Jahre 2002 endgültig für den globalen Kunstdialog geöffnet. Und Buergel hat sicher Recht, wenn er meint, hinter diese Position könne man nicht mehr zurück. Mit Enwezor verbindet ihn aber auch der Grundansatz, den Blick auf die Kunst aus den gesellschaftlich-politischen und allgemeinen kulturellen Fragestellungen zu richten. Gespannt darf man folglich darauf sein, wie es ihm gelingt, dieses theoretisch begründete Konzept so unmittelbar in Anschauung zu übersetzen, dass sich die Theorie nicht zwischen Werk und Betrachter schiebt. Wichtig ist jedenfalls die Beobachtung, dass Buergel, wenn er an Kunst denkt, ebenso selbstverständlich den Film oder andere Medien einbezieht wie seine Vorgänger Catherine David und Okwui Enwezor. Deshalb tauchen in den Listen seiner Ausstellungsprojekte auch immer wieder Namen solcher Künstler auf, die wir 1997 und 2002 in Kassel erlebt haben: Peter Friedl, Harun Farocki, Allan Sekula und Andreas Siekmann. Mehrere seiner Ausstellungen hat er mit Ruth Noack gemeinsam organisiert, die sich durch ihre engangierte Auseinandersetzung mit dem feministischen Film einen Namen gemacht hat. Insofern ist es vorstellbar, dass in der documenta12 die politisch-gesellschaftlich motivierten Arbeiten eine noch größere Rolle spielen. Aber bei allem Ernst in der Untersuchung aktueller Probleme und ihrer Spiegelung in den Werken von Künstlern und Künstlergruppen hat Buergel selbst eine Neigung zum Spielerischen. Ein Lieblingsthema war für ihn bisher, mit Ausstellungstiteln zu jonglieren, Erwartungshaltungen aufzubauen, um dann mit anderen Arbeiten zu überraschen. Auf diese Weise hat er mehrfach das Ausstellen selbst thematisiert. Unter Roger M. Buergel wird sich die documenta, und das ist gut und wichtig für sie, weiterhin nicht dem Markt und seinen Gesetzen unterordnen. Wenn Buergel daran denkt, in den Stadtraum zu gehen, kleine Ausstellungseinheiten der großen Superschau vorzuziehen, dann hat er keine Ausstellung im Visier, die man im schnellen Durchgang erledigen kann. So könnte die documenta12 vielleicht im Jahre 2007 einlösen, was Manfred Schneckenburger 1987 vorschwebte, aber nicht erreichte, und was sich 2002 mit den Projekten von John Bock und Thomas Hirschhorn im Außenbereich abzeichnete.
HNA 5. 12. 2003

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