Eine spannende und immer
wieder witzige Ausstellung
zum Thema Porträt
zeigt Vollrad Kutscher
im Kasseler Kunstverein.
KASSEL • Wie bei einer Militärparade:
In Reih und Glied sieht
sich der Betrachter in Augenhöhe
144 Gesichtern gegenüber.
144 mal das gleiche Gesicht,
das auf einen Arm gestützt
ist. Ein Mensch denkt
nach.
Doch dieses Bild stimmt nur
zur Hälfte, denn der Rest des
Kopfes fehlt. Das Gesicht ist
also nur eine Maske, die von der
Hand gehalten wird. Und in der
Reihung werden die Maskengesichter
zur verwirrenden Masse.
Das Ende der Individualität?
Nicht ganz, denn schreitet
man die Gassen zwischen den
hölzernen Podesten ab, entdeckt
man, daß in der einen
Reihe sich in der Abfolge die
Augenlider der Gesichter langsam
schließen und wieder öffnen,
so daß der Durchgang zum
Filmerlebnis wird. Und noch
eine zweite Entdeckung macht
man: Auf die Rück- bzw. Innenseiten
der Terracotta-Masken
sind wechselnde naiv-archaische
Zeichnungen eingeritzt.
Die Individualität steckt
also innen.
Zu dieser stummen Parade,
die immer neue Ein- und Ausblicke
eröffnet, laufen zwei Videos,
die in hoher Geschwindigkeit
Standbilder von den
Masken abspulen und dazu das
allmähliche Ein- und Ausatmen
eines Mannes ertönen lassen.
„Einatmen – Ausatmen“
hat der Frankfurter Künstler
Vollrad Kutscher seine Ausstellung
bennant, denn in dem
Sechs-Sekunden-Atem-Rhythmus
sind auch im Video alle
Gesichter zu sehen.
Porträt ist eben nicht nur Momentaufnahme.
Wer das Bild
eines Menschen einfangen will,
braucht die Zeit, um der Person
nahe zu kommen. Eine andere
Installation Kutschers in Kassel
steht sinnbildlich dafür: Lebensgroß
hat er sich selbst abgelichtet
und das Foto (den
Kopf nach unten) als ein Pendel
an die Wand gehängt. Während
Körper und Kopf hin- und
herpendeln, wird auf die Wand
daneben ein Film mit dem Pendelkopf
projiziert. Nur ganz gelegentlich
treffen Foto und
Filmbild deckungsgleich aufeinander.
Dann tritt die ideale
Situation ein und wird die Bildkraft
verstärkt.
Vollrad Kutscher (1945 in
Braunschweig geboren) ist ein
Künstler, der ebenso systematisch
wie spielerisch die Möglichkeiten
des Porträts untersucht
und dabei zugleich die
Grenzen der Medien (Fotografie,
Skulptur, Film) erkundet.
Das Spiel mit den Masken ist
beispielsweise auch ganz vordergründig,
weil der Porträtierte
mit der markanten Nase ein
Schauspieler ist.
Das, was an Kutschers Arbeiten
fasziniert,, ist deren Doppelbödigkeit.
Sie nehmen den Betrachter
einmal ganz unmittelbar
gefangen – wie die Maskehparade
oder die winzigen, auf
kleine Glühbirnen gemalten
Porträts, die auf Wände projiziert
werden. Dann aber bergen
sie in sich auch stets Reflexionen
über das Medium: Die
„Leuchtenden Vorbilder“, wie
Kutscher die auf Glühbirnen
gemalten Prominentenporträts
nennt, erlangen erst mit Hilfe
der Projektion Ausdruckskraft.
Ganz herrlich ist in dieser Beziehung
die Miniatureisenbahn,
die in einem Koffer ihre Runden
dreht und dabei ein Lämpchen
mitführt, das ein sich ständig
veränderndes Porträt auf
die Wände wirft.
Kutscher kann aber auch
sehr ernst und nachdenklich
eine Konstellation spiegeln:
Dem Foto seiner Lebensgefährtin,
einer Algerierin, die im
Krieg ihren Arm verlor, stellte
er am Boden eine zerstörte und
nur notdürftig geflickte Keramikschale
gegenüber, deren
fehlende Ecke als Bild auf einer
Postkarte in einem Kartenständer
zu entdecken ist. Erst so
vollendet sich das Porträt.
HNA 21. 1. 1992
Auf der Suche nach dem Porträt
Schreibe eine Antwort